Afghanistan-Abzug Merkels Rolle im Fokus
Der Untersuchungsausschuss des Bundestags zur Endphase des Afghanistan-Einsatzes befasst sich heute unter anderem mit der Rolle von Ex-Kanzlerin Merkel. Der SPD-Obmann im Ausschuss erhebt schwere Vorwürfe gegen sie.
Höchstpersönlich erscheint die ehemalige Kanzlerin vor dem Untersuchungsausschuss zwar nicht - noch nicht. Dennoch rückt das Handeln und Nicht-Handeln von Angela Merkel in der Endphase des deutschen Afghanistan-Einsatzes nun in den Fokus. Massive Kritik übt der Obmann der SPD im Untersuchungsausschuss, Jörg Nürnberger, an der CDU-Politikerin: "Mein Eindruck ist, dass das Kanzleramt viel zu lange passiv war und die Dinge einfach hat laufen lassen", sagt Nürnberger im Gespräch mit dem ARD-Hauptstadtstudio.
Nürnberger bemängelt insbesondere Merkels Politik in Bezug auf die ehemaligen Helfer der Deutschen in Afghanistan, die sogenannten Ortskräfte. "Nicht nachvollziehbar ist, weshalb die ehemalige Bundeskanzlerin Merkel die Vereinfachung des Ortskräfteverfahrens nicht zur Chefinnensache gemacht hat", kritisiert der SPD-Obmann. Man hätte auf diese Weise Gefährdeten die Ausreise ermöglichen können.
Zu halbherzig?
Warum die Bundesregierung es in den Wochen vor der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan Mitte August 2021 versäumte, Ortskräfte rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, ist eine der zentralen Fragen des Untersuchungsausschusses. Aus vertraulichen Dokumenten geht nun hervor, dass Merkel Mitte Juli 2021 darum bat, noch einmal die Möglichkeit zu prüfen, Ortskräfte mit Chartermaschinen auszufliegen.
In einem Papier findet sich auch eine handschriftliche Notiz der damaligen Kanzlerin dazu. Gänzlich untätig blieb Merkel also nicht. Die Frage aber ist: Griff sie zu halbherzig ins Geschehen ein - und vor allem zu spät?
In die Tat umgesetzt wurde die unter anderem von der damaligen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer vorangetriebene Charterflugidee nie. Im Auswärtigen Amt, im Innen-, im Entwicklungsministerium und auch in Teilen der Bundeswehr sah man den Vorschlag skeptisch.
"Mit Nichtbeachtung gestraft"
Schon damals, im Sommer 2021, hatte es wegen der gefährdeten Ortskräfte jede Menge Warnungen, Appelle und auch Kritik an die Adresse der Bundesregierung und des Kanzleramts gegeben. Der Vorsitzende des "Patenschaftsnetzwerks afghanische Ortskräfte", Marcus Grotian, berichtete davon, dass er sich im Juni und Juli unter anderem per Brief an die Kanzlerin gewandt habe. Dies sei aber "mit Nichtbeachtung gestraft" worden.
Des zunehmenden Drucks von außen schien man sich damals im Kanzleramt durchaus bewusst gewesen zu sein: In einem vertraulichen Schreiben vom Juli 2021, das dem ARD-Hauptstadtstudio vorliegt, verweist der damalige Kanzleramtschef, Helge Braun, auf das von der Bundesregierung mittlerweile eingerichtete Aufnahmeprogramm für Ortskräfte. Er erklärt aber gleichzeitig, man setze sich parallel dazu weiter dafür ein, "dass ehemalige Ortskräfte und ihre Familien in ihrer Heimat Afghanistan eine Bleibeperspektive haben".
Chaotische Evakuierungsaktion
Nur wenige Wochen danach übernahmen die Taliban die Macht. In einer chaotischen Evakuierungsaktion versuchte man mithilfe der Bundeswehr, Schutzbedürftige auszufliegen: "Die Frage ist, ob die Szenen am Flughafen in Kabul hätten verhindert werden können, hätten das Kanzleramt und die Bundeskanzlerin entschiedener eingegriffen", gibt der SPD-Politiker Nürnberger zu bedenken. Nicht ausgeschlossen, dass Merkel eines Tages selbst in den Ausschuss geladen wird, um Antworten zu geben.