Verfassungsbeschwerde Wenn nach dem Arzt die Abschiebung droht
Menschen ohne Papiere meiden den Kontakt mit dem Sozialamt. Die Behörde wäre verpflichtet, die Daten an die Ausländerbehörde zu übermitteln. Was aber, wenn sie krank werden? Ein Betroffener hat nun Verfassungsbeschwerde eingereicht.
1993 flüchtete er vor dem Krieg im damaligen Jugoslawien. Vor fünf Jahren hätte er Deutschland verlassen müssen. Doch er blieb. "Ich kann mir nicht vorstellen, woanders zu leben. Für mich ist meine Heimat hier in Deutschland", sagt der Mann, der aus Angst vor den Behörden unerkannt bleiben will.
Denn er blieb ohne Aufenthaltstitel in Deutschland. Wenn die Ausländerbehörde erfährt, wo er sich aufhält, droht ihm die Abschiebung. Wie er leben Schätzungen von 2014 zufolge zwischen 180.000 und 520.000 Menschen ohne Papiere in Deutschland. Aktuellere "seriöse Schätzungen" gibt es nicht, so das Katholische Forum "Leben in der Illegalität".
Leben ohne Krankenversicherung
Ein Leben ohne Aufenthaltstitel bedeutet auch ein Leben ohne Krankenversicherung. Trotz Schmerzen sei er nicht zum Arzt gegangen, erzählt der Mann. Bis er mit einem Herzinfarkt zusammenbrach. Ihm sei öfter schlecht gewesen. Aber ein Herzinfarkt? Damit habe er nicht gerechnet. "Ich dachte, mir geht’s ein paar Minuten schlecht und nachher wieder langsam besser."
Aber dieses Mal wurde es nicht besser. Stattdessen war eine Notoperation nötig. Für die habe er anschließend eine Privatrechnung über 5000 Euro bekommen. Bezahlen konnte er das nur mit finanzieller Unterstützung seiner Freunde und der Organisation "Ärzte der Welt".
Weitere Untersuchungen, die jetzt nötig wären, und eine eventuelle erneute Operation, könne er sich nicht leisten. Theoretisch hat er einen Anspruch darauf, dass der Staat die Kosten für die Behandlung übernimmt. Doch den Antrag dafür will er nicht stellen - aus Angst vor einer Abschiebung.
Klage vor dem Bundesverfassungsgericht
Die Angst ist begründet. Denn das Sozialamt wäre verpflichtet, seine Daten an die Ausländerbehörde zu übermitteln. Geregelt ist das in Paragraf 87 des Aufenthaltsgesetzes. Unterstützt von der Organisation "Gesellschaft für Freiheitsrechte" klagt der Mann dagegen jetzt vor dem Bundesverfassungsgericht.
"Die Meldepflicht ist verfassungswidrig, weil sie Menschen davon abhält, ihr Recht auf Gesundheitsversorgung in Anspruch zu nehmen", sagt Anwältin Sarah Lincoln. "Jeder Mensch hat ein Recht auf eine angemessene Gesundheitsversorgung, das ist Teil der Menschenwürdegarantie. (…) Die gilt für alle Menschen bedingungslos, unabhängig davon, welchen Aufenthaltsstatus man hat."
Es reiche nicht, wenn der Anspruch nur auf dem Papier stehe. "Das System ist ja gerade so ausgestaltet, dass es niemand in Anspruch nimmt."
Gründe für die Meldepflicht
Doch es gibt auch Argumente für die Meldepflicht. Sie sei "Ausdruck des berechtigten Interesses des Staates zu wissen, wer sich auf seinem Territorium aufhält", sagt Winfried Kluth, Rechtswissenschaftler an der Universität Halle-Wittenberg. "Wer sich länger in Deutschland aufhalten will, muss sich anmelden. Und das muss jeder. Das müssen Unionsbürger, das müssen Deutsche, das müssen alle."
Denn der Staat habe eine Verantwortung für die Menschen. Um der gerecht zu werden, müsse er wissen, wer sich im Land aufhalte.
Ehrenamtliche Sprechstunde
Verantwortung für die Gesundheitsversorgung von Menschen ohne Papiere übernehmen häufig ehrenamtliche Stellen - etwa der Mainzer Verein "Armut und Gesundheit in Deutschland“. Sie bieten eine kostenlose medizinische Ambulanz an und geben keine Daten an die Behörden weiter.
Aber was sie leisten können, hat Grenzen: "Wo eine Narkose notwendig ist, wo ein größeres steriles Feld benötigt wird, wenn man eingreifen müsste, das ist nicht leistbar", sagt Internist Sebastian Schink. Er ist einer von zwei fest angestellten Ärzten des Vereins. Der Rest arbeitet im Ehrenamt. "Wir können natürlich keine invasiven Untersuchungen, zum Beispiel Magen- oder Darmspiegelungen durchführen, keine Herzkatheter durchführen."
Aus Sicht von Anwältin Lincoln können solche "regional begrenzten Angebote" eine "reguläre Versorgung, wie sie eigentlich vorgesehen ist und wie sie der Staat gewähren muss, nicht ersetzen".
Außerdem sagt sie: "Durch diese Meldepflicht im Gesundheitswesen wird kein einziger irregulärer Aufenthalt aufgedeckt. Die Leute meiden ja gerade die Sozialbehörden."
Tatsächlich ist die Datenlage dürftig. 2006 hatte das Bundesinnenministerium die Bundesländer nach dem Umgang mit der Meldepflicht unter anderem durch die Sozialämter gefragt. Das Ergebnis: Soweit überhaupt Erkenntnisse vorlägen, könnten diese dahingehend zusammengefasst werden, dass von den Mitteilungspflichten nur "vereinzelt und uneinheitlich" Gebrauch gemacht werde.
Koalitionsvertrag verspricht Änderung
Die Politik will das Thema angehen. Im Koalitionsvertrag wurde vereinbart: "Die Meldepflichten von Menschen ohne Papiere wollen wir überarbeiten, damit Kranke nicht davon abgehalten werden, sich behandeln zu lassen."
Wie eine solche Überarbeitung aussehen könnte, ist noch unklar. Einen konkreten Vorschlag dazu gibt es bislang nicht. Man wolle das Thema "in einem Gesetzesvorhaben zur Migration voraussichtlich Ende des Jahres/Anfang nächsten Jahres" aufgreifen, heißt es aus dem Bundesinnenministerium.
Seit 2011 gibt es bereits eine Ausnahme für den Bildungsbereich, damit Kindern der Schulbesuch nicht verwehrt wird. Die Klage des Mannes ohne Papiere steht noch vor einer zusätzlichen Herausforderung: Da auch Gerichte seine Daten an die Ausländerbehörde weitergeben müssten, klagt er anonym. Das Verwaltungsgericht oder der Verwaltungsgerichtshof haben das für unzulässig gehalten. Nun muss das Bundesverfassungsgericht die Sache klären.