Wahlrechtsreform Rezept gegen Bläh-Bundestag gesucht
"Organisierte Wahlfälschung", "No-Go unter Demokraten": Ampel-Parteien und Union streiten über eine Reform des Wahlrechts. Einig ist man sich nur, dass der Bundestag endlich kleiner werden soll. Aber wie?
Mit jeder Wahl ist der Bundestag zuletzt weiter gewachsen. 598 Abgeordnete sind die Norm, tatsächlich sind es aktuell 736. Expertinnen und Experten halten auch einen noch größeren Bläh-Bundestag für möglich. Um das zu verhindern, legten Innenpolitiker der Ampel-Koalition am Montag einen Entwurf für eine Wahlrechtsreform vor.
Scharfe Kritik kam umgehend aus der Union. CSU-Generalsekretär Martin Huber sprach von "organisierter Wahlfälschung". Damit habe sich die CSU in einer Art und Weise im Ton vergriffen, "die unter Demokraten ein No-Go ist", konterte der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Johannes Vogel. Worum es in dem Streit zwischen Ampel und Union geht und wo beide Seiten stehen - die wichtigsten Fragen und Antworten.
Warum wächst der Bundestag immer weiter?
Der Bundestag setzt sich zusammen aus direkt gewählten Abgeordneten, die einzelne Wahlkreise vertreten, und Abgeordneten, die über die Listen von Parteien ins Parlament einziehen. Erstere bestimmen die Wählerinnen und Wähler über ihre Erststimme, Letztere über die Zweitstimme. Für die Zusammensetzung sind die Zweitstimmen entscheidend. Sie bestimmen, welchen Anteil welche Partei in einem neuen Bundestag stellt. So sieht es das Bundeswahlgesetz vor.
Die Ergebnisse von Erststimmen und Zweitstimmen weichen für gewöhnlich deutlich voneinander ab. So erhielt die FDP bei der vergangenen Bundestagswahl 11,5 Prozent aller Zweitstimmen, holte aber kein einziges Direktmandat. Die CSU wiederum gewann in Bayern 45 der 46 Wahlkreise, kam bundesweit bei den Zweitstimmen jedoch auf 5,2 Prozent aller Stimmen. Das hätte nur 34 Mandaten entsprochen. Sie hat nun elf sogenannte Überhangmandate. Ausgleichsmandate sorgen im Gegenzug dafür, dass die Verhältnisse zwischen den Parteien nahezu ihrem Zweitstimmenergebnis entsprechend wiederhergestellt werden. 2021 erhielten so alle Parteien bis auf die CSU weitere Mandate.
Vorteil: Jede Stimme zählt annähernd gleich viel. Nachteil: Der Bundestag wächst und wird teurer - und angesichts von sieben Parteien im Bundestag tendenziell immer weiter.
Was wollen die Ampel-Fraktionen ändern?
Der Gesetzentwurf von SPD, Grünen und FDP deckelt die Zahl der Mandate. Die Normgröße von 598 Abgeordneten wird nicht mehr überschritten. Dazu werden keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr vergeben. Maßgeblich für die Sitzzahl einer Partei soll allein das Ergebnis der Zweitstimmen sein. Diese bekämen einen neuen Namen: Hauptstimmen. Das Hauptstimmenergebnis würde allerdings nochmal auf die 16 Bundesländer umgerechnet. Gewinnt eine Partei in einem Land weniger Wahlkreise direkt, als ihr Mandate zustehen, werden die restlichen Mandate über die Landesliste vergeben. Gewinnt sie aber mehr Wahlkreise direkt, als Sitze nach dem Hauptstimmenergebnis auf sie entfallen, gehen die Kandidatinnen und Kandidaten mit dem niedrigsten Wahlkreisstimmenergebnis leer aus.
Wäre diese Regelung schon bei der Bundestagswahl 2021 angewandt worden, wären elf der 45 direkt gewählten CSU-Abgeordneten nicht in den Bundestag eingezogen. Zudem besteht das Risiko, dass der jeweilige Wahlkreis dann keinen Vertreter bzw. keine Vertreterin im Bundestag hätte. Einige Wahlsiegerinnen oder Wahlsieger ohne guten Listenplatz blieben draußen. Im ungünstigsten Fall bleibt eine ganze Region ohne politische Vertretung. Deshalb kritisierte auch Linke-Chefin Janine Wissler den Ampel-Plan.
SPD, Grüne und FDP halten dieses Szenario für unwahrscheinlich. Schon heute würden die allermeisten Wahlkreise zwei oder mehr Abgeordnete stellen.
Würde die CSU also einseitig benachteiligt?
Nur wenn man ausschließlich auf Direktmandate und damit die Überhangmandate schaut. Denn alle Parteien verlören Mandate, wenn Ausgleichsmandate wegfielen. Neben der CSU wären zudem CDU, SPD und AfD eines oder mehrere Überhangmandate bei der Wahl 2021 gestrichen worden. Und bislang liegt kein aktueller Entwurf der Union vor.
Ihre Innenpolitiker hatten sich zuletzt für ein reines sogenanntes Grabenwahlrecht ausgesprochen. Demnach würden die Hälfte der Sitze weiterhin über die Erststimmen gewählt, die restlichen 299 allein über die Zweitstimme. Einen Ausgleich gäbe es nicht. So schrumpfte der Bundestag zwar wieder auf Normgröße, doch vor allem CDU, CSU und SPD würden bevorteilt.
Braucht es überhaupt eine Einigung?
SPD, Grüne und FDP können eine Wahlrechtsreform mit ihrer Mehrheit im Bundestag durchsetzen. Zunächst beraten die Fraktionen über den Entwurf. Er ist mit den Vorschlägen aus der Union kaum vereinbar. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) drängt jedoch auf eine Einigung. In diesem Fall würde die Union auch nicht vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Ihre Fraktionsspitze zeigte sich mittlerweile gesprächsbereit.
Was passiert, wenn die Reform nicht kommt?
Der neuerliche Anlauf der Ampel soll verhindern, dass 2024 19 der bislang 299 Wahlkreise gestrichen werden müssten. Das wäre die Folge einer von der Großen Koalition vor drei Jahren beschlossenen Wahlrechtsreform. Diese hatten Union und SPD gegen den Willen der Opposition durchgedrückt. Von einer Streichung betroffen wären dann zwölf der 16 Bundesländer. So hat es die Wahlkreiskommission des Bundestags errechnet. Derzeit vertreten Abgeordnete von CDU, CSU, SPD, AfD und Linke diese Wahlkreise.
Die vorangegangene Wahlrechtsreform im Jahr 2013 hatten Union und SPD noch mit oppositionellen FDP und Grünen gemeinsam beschlossen. Die Diskussion hatte damals mehrere Jahre und einen zweiten Anlauf gebraucht.
(Quelle: dpa, AFP)