Forderung nach Wehrpflicht Die Gefahren werden komplexer
Die Bundeswehr sucht händeringend Nachwuchs. Immer lauter wird die Debatte darüber, die 2011 ausgesetzte Wehrpflicht zu reaktivieren. Doch die Bedrohung und auch mögliche Antworten darauf sind vielschichtig.
Dreizehn Jahre nach dem Aussetzen der Wehrpflicht ist vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und der Verschärfung der allgemeinen Sicherheitslage eine Debatte über ihre Reaktivierung entflammt. Niemand solle auf die Idee kommen, Deutschland als NATO-Gebiet anzugreifen, sagte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius dazu.
Um das ausstrahlen zu können, solle die Bundeswehr neu aufgestellt werden. Bis zum Sommer will Pistorius eine Liste mit Wehrpflichtmodellen anderer Länder analysieren, erst dann soll eine Entscheidung fallen.
Schweden als Modell für Deutschland?
Im Bundesverteidigungsministerium will man auf die "neue Form der sicherheitspolitischen Entwicklungen" und Russland als Bedrohung für die europäische Sicherheit reagieren. "Mit der Annexion der Krim 2014 und der militärischen Invasion auf die Ukraine demonstrierte Russland den Willen, Grenzen in Europa mit Gewalt zu ändern", so die Sprecherin des Ministeriums. Es brauche "mehr denn je eine handlungs- und reaktionsfähige Bundeswehr", was vor allem die "Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaft" erfordere.
Wie genau diese "Verankerung" erfolgen und aussehen und ob dazu auch eine Reaktivierung der 2011 ausgesetzten Wehrpflicht gehören soll, bleibt ungewiss. Man sei auf der Suche nach einem Modell, das zur "Bundeswehr der Zeitenwende" passe, heißt es aus dem Ministerium. Aber wie genau dieses Modell aussehen könnte - auch das ist derzeit ungewiss.
Ein Anhaltspunkt und eines dieser Modelle, das in der jüngsten Vergangenheit vermehrt exemplarisch genannt wurde, ist das schwedische. In Schweden werden alle jungen Männer und Frauen eines Jahrgangs gemustert. Zu den Streitkräften eingezogen werden aber nur vergleichsweise wenige von ihnen - vorwiegend jene, die daran Interesse gezeigt haben.
Bundeskanzler Olaf Scholz hingegen äußerte sich deutlich defensiver: "Wir werden nicht wieder zurückkehren zu einer Wehrpflichtarmee mit 400.000 Soldaten", sagte er jüngst im ZDF.
Wehrpflicht seit Juli 2011 ausgesetzt
Die Wehrpflicht war in Deutschland nach 55 Jahren im Juli 2011 unter dem damaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) ausgesetzt worden. Das kam in der Praxis einer Abschaffung von Wehr- und Zivildienst gleich, weil gleichzeitig alle nötigen Strukturen für eine Wehrpflicht aufgelöst wurden. Gesetzlich festgelegt ist aber weiter, dass die Wehrpflicht für Männer im Spannungs- und Verteidigungsfall wieder reaktiviert werden kann.
Die Frage, ob das Aussetzen der Wehrpflicht 2011 ein Fehler gewesen sein, beantwortet Guttenberg heute mit einem klaren Nein: "Es war eine Notwendigkeit damals. Es gab im Grunde keine vernünftige Alternative. Warum? Wir hatten damals eine vollkommen heruntergewirtschaftete Wehrpflicht als Modell."
Dennoch, sagt er, sei er Befürworter einer "vernünftig gestalteten Wehrpflicht" - einer, die mit ausreichend finanziellen Mitteln ausgestattet sei. Das sei damals nicht der Fall gewesen, jedoch sei die Zeit und die Bedrohungslage auch eine andere gewesen. Heute müsse Deutschland mehr leisten, sagt Guttenberg im Gespräch mit Past Forward.
Auch die Gießener Professorin und Expertin für Sicherheitspolitik Andrea Gawrich beobachtet die aktuelle Debatte. Diese werde zwar lauter, kratze aber dennoch an der Oberfläche, meint Gawrich. Der Diskurs scheine sich weiterhin so zu entwickeln, dass die Wehrpflichtfrage als ein Teil der Lösung von Sicherheitsproblemen gesehen werde. Verteidigungsminister Pistorius sehe, "dass wir einer Bedrohung ausgesetzt sind, die aber in den Köpfen nicht wirklich angekommen ist", so Gawrich.
Bedrohungslage ist komplex
Doch genau da liegt die Krux. Denn wie diese Bedrohung und mögliche Antworten darauf aussehen könnten, sei vielschichtig, sagt die Wissenschaftlerin. Die Gefahren, denen Deutschland ausgesetzt sei, seien nicht nur militärischer Art, sondern komplexer.
"Es ist das russische Ziel, konsolidierte Demokratien wie die unsrige zu schwächen. Und diese Bedrohung wird auf vielen Wegen umgesetzt", sagt sie. Neben Cyber-Attacken oder Desinformationskampagnen meint sie vor allem auch die Stärkung von Demokratiefeinden und spricht von regelrechten "trojanischen Pferden": Durch die Unterstützung nationalistischer und populistischer Gruppierungen sollen die Fundamente unserer Demokratie von innen heraus geschwächt werden.
"Ich sehe die nächsten Jahre als Jahre der Unsicherheit", sagt auch zu Guttenberg. Deutschland dürfe sich nicht nur auf die NATO oder die USA als Bündnispartner verlassen, gefragt sei gerade auch die jüngere Generation. Und wie diese sich künftig zur Wehrpflicht positioniert, wird sich im Laufe der Legislaturperiode zeigen.