Der Praktiker: Handwerkskammer-Chef Semper Wie klappt's in der Praxis?
Lothar Semper ist Geschäftsführer der Handwerkskammer München - ein Praktiker. Er erlebt Flüchtlinge als äußerst motiviert. Aber er kennt auch die Probleme: Im tagesschau.de-Interview erklärt er unter anderem, weshalb Aushilfsjobs oft mehr locken als eine fundierte Ausbildung.
tagesschau.de: Wo sehen Sie die entscheidenden Faktoren für Integration?
Lothar Semper: Damit die Integration in die Gesellschaft auf Dauer gelingen kann, sehe ich die Eingliederung in den Arbeitsmarkt als wichtigsten Faktor an. Dabei wiederum ist die Sprache ein Faktor von immenser Bedeutung - insbesondere die Fachsprache des jeweiligen Berufes. Der Umgang zum Beispiel mit Heizungen erfordert viel Fachchinesisch, das muss ein Handwerker Privatkunden nachvollziehbar erklären können.
Zudem müssen die Menschen Sozialkompetenzen mitbringen. Dabei spielt beispielsweise auch eine Rolle, ob die jungen Männer eine Frau als Vorgesetzte akzeptieren. Aber es betrifft auch die Sekundärtugenden, wie zum Beispiel Pünktlichkeit und regelmäßiges Erscheinen am Arbeitsplatz. Die Arbeitsabläufe sind zum Teil noch sehr ungewohnt.
Dr. Lothar Semper ist Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer für München und Oberbayern. Ihr gehören rund 78.000 Handwerksbetriebe mit knapp 300.000 Beschäftigten an.
Verpflichtet, Geld nach Hause zu schicken
tagesschau.de: Sieben von zehn Flüchtlingen des Münchener Ausbildungsjahrgangs 2012 haben frühzeitig abgebrochen. Wo liegen die Probleme?
Semper: Die größten Schwierigkeiten erleben wir mit der Sprache. Dadurch stellt der erste Teil der Gesellenprüfung eine erhebliche Hürde dar. Dann steigt auch die Abbruchquote überdurchschnittlich an.
Im Raum München haben wir noch ein weiteres Problem, das typisch für Metropolen ist: der Wohnraum. Wohnungen in der bayrischen Landeshauptstadt sind nicht nur knapp sondern auch sehr teuer. Als Lösung kontaktieren wir Wohnheime, denn es ist wichtig, dass die Auszubildenden aus dem Umfeld der Erstaufnahmezentren und Flüchtlingsheime herauskommen. So können sie soziale Kontakte aufbauen und ihre Sprachkompetenzen vertiefen.
Aber auch der vergleichsweise geringe Lohn während der Lehre spielt eine Rolle. Aushilfsjobs mit Mindestlohn klingen für viele der jungen Flüchtlinge verlockend. Denn oftmals fühlen sie sich verpflichtet, ihren Angehörigen Geld nach Hause zu schicken. Oder sie haben noch Schulden bei Schleusern. Da entsteht ein großer Wettbewerb zwischen Helfertätigkeiten und einer soliden Berufsausbildung. Wir müssen große Überzeugungsarbeit leisten, dass es langfristig die bessere Entscheidung ist, sich für eine Lehre zu entscheiden und erst weniger zu verdienen.
Unsere Hoffnung ist, künftig mit Vorbildern überzeugen zu können. Jetzt beenden die ersten Flüchtlingsjahrgänge ihre Ausbildung. Die wollen wir gewinnen, um bei ihren Landsleuten für eine duale Ausbildung zu werben. Das ist erfolgreicher, als wenn wir Außenstehenden ihnen etwas predigen.
Deutsch und Sozialkompetenz vermitteln
tagesschau.de: Was kann das Handwerk konkret für Flüchtlinge tun?
Semper: Wir dürfen die Flüchtlinge auch während der Ausbildung nicht allein lassen, sonst scheitern sie. Deshalb bieten wir ein engmaschiges Betreuungsnetz mit speziellen Ausbildungsbegleitern an. Dieser dient gezielt als Ansprechpartner für die Jugendlichen mit ihren Alltagsproblemen bei Wohnraumsuche oder in der Berufsschule. Die Zahl der Betreuer in den Betrieben werden wir in den kommenden Jahren noch erhöhen müssen. Aber wir verzeichnen schon erste Erfolge: Für die Jahrgänge 2013/14 konnten wir bereits feststellen, dass die Abbrecherquote deutlich geringer ausfällt.
Für ein dauerhaftes Gelingen der Ausbildung spielt auch die Vorbereitung eine Rolle: In Bayern haben wir sogenannte Berufsintegrationsklassen, für junge berufsschulpflichtige Flüchtlinge im Alter bis 21 Jahre. Dort werden Deutsch und Sozialkompetenzen vermittelt. Im zweiten Lehrjahr steht dann Berufsorientierung mit auf dem Stundenplan und die jungen Leute können Praktika absolvieren. In so einen Betrieb hineinzuschnuppern, ist die beste Vorbereitung für beide Seiten.
Keine Alternative - sonst sammelt sich sozialer Sprengstoff an
tagesschau.de: Sind die aktuell Ankommenden denn eine Lösung für den Fachkräftemangel?
Semper: Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass die eine Million Flüchtlinge, die 2015 angekommen sind, unser Fachkräfte-Problem lösen können. Die Zahlen vom Bundesamt für Migration und der Bundesarbeitsagentur zeigen, dass von den Ankommenden bestenfalls zehn Prozent unmittelbar integrationsfähig in den Arbeitsmarkt sind. Etwa 20 Prozent haben eine abgeschlossene Berufs- oder universitäre Ausbildung. Während 80 Prozent eine entsprechende Ausbildung fehlt.
Und wir stellen zunehmend fest, dass aus afrikanischen Staaten Menschen kommen, die sehr selten oder sogar nie eine Schule besucht haben. Bei diesen jungen Menschen brauchen wir deutlich länger als zwei Jahre, um eine volle Berufsausbildung zu vermitteln. Aber es gibt keine Alternative: Wir müssen versuchen, diese Menschen in unsere Wirtschaft, in unsere Gesellschaft zu integrieren. Sonst haben wir in wenigen Jahren erheblichen sozialen Sprengstoff angesammelt.
Sicherstellen, dass sie nicht abgeschoben werden
tagesschau.de: Welche Rahmenbedingungen müssen von der Politik geschaffen werden?
Semper: Der Zustrom muss reguliert werden. Sonst sind die Angebote zur Integration nicht mehr leistbar, weil Geld, Kapazitäten und Menschen fehlen. Ein Beispiel: Allein in Bayern hatten wir bis Ende 2015 in Integrationsklassen 8000 Plätze für berufsschulpflichtige Jugendliche. Dabei gab es 30.000 Jugendliche, die dieses Angebot gerne wahrgenommen hätten. Nun nimmt der Freistaat Geld in die Hand und erhöht für das Schuljahr 2016/17 auf die entsprechende Zahl. Aber irgendwann kommen wir nicht mehr hinterher - das wird zum berüchtigten Wettlauf zwischen Hase und Igel.
tagesschau.de: Welche konkreten Forderungen stellen Sie an die Politik?
Semper: Erstens fordern wir die frühzeitige Erfassung des beruflichen Könnens und Wissens beim Erstaufnahmegespräch. Zweitens eine möglichst frühe Sprachförderung. An dritter Stelle muss den Betrieben zugesichert werden, dass Flüchtlinge während und unmittelbar nach der Ausbildung nicht abgeschoben werden. Viertens fordern wir eine Unterstützung der Betriebe während der Ausbildung und ersten Berufsjahre durch ein engmaschiges Betreuungsnetz.
Entscheidend ist, wohin jemand will
tagesschau.de: Wie erleben Sie die Motivation der Flüchtlinge?
Semper: Wir stellen fest, dass die Jugendlichen im Durchschnitt äußerst motiviert sind. Das sind Menschen, die viel auf sich genommen haben, um aus ihrem Leben etwas zu machen. Das zeigt sich in ihrer Leistungsbereitschaft. Aber auch die Betriebe sind offen. Junge Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen zu beschäftigen, ist für die Betreibe nicht komplett neu. Die 26.000 Lehrlinge in Bayern kommen aktuell aus 109 unterschiedlichen Nationen. Da passt unser Slogan: "Für uns ist nicht entscheidend woher jemand kommt, sondern wo er hin will".
tagesschau.de: Was ändert sich am Betriebsklima?
Semper: Ich kenne keine negativen Schilderungen aus den Ausbildungsbetrieben. Die Rahmenbedingungen sind aber auch sehr günstig: Ein Handwerksbetrieb ist mit durchschnittlich fünf Beschäftigten in der Regel sehr klein. Da ist das soziale Geflecht sehr engmaschig, die jungen Flüchtlinge werden aufgefangen und mitgenommen. Gerade in diesen kleinen Betrieben herrscht oftmals ein sehr familiäres Klima. Nur an Berufsschulen wurden uns Fälle zugetragen, bei denen Flüchtlinge Probleme mit einer Frau als Vorgesetzte hatten.
tagesschau.de: Ist Ihnen ein Auszubildender besonders in Erinnerung geblieben ist?
Semper: Es ist kein aktueller Fall. Aber wir hatten in München einen jungen Lehrling, der als "Boat People" nach Deutschland gekommen war. Er machte eine Ausbildung als Vulkaniseur (Anm. d. Red.: Reifenmechaniker) und das brillant: Auf sämtlichen Ebenen hat er die Leistungswettbewerbe in seinem Handwerk gewonnen - bis hin zum Bundessieger. Nun absolviert er die Meisterprüfung. Ein Vorzeige-Beispiel, aber ich bin mir sicher, dass wir davon in den kommenden Jahren noch viele mehr sammeln werden.
Das Interview führte Judith Pape, tagesschau.de