Bericht zu "Kentler-Experiment" "Institutionalisierter Missbrauch"
Der Pädagoge Helmut Kentler vermittelte mehr als 30 Jahre lang Kinder an zum Teil vorbestrafte Pädokriminelle. Ein neuer Bericht zeigt, wie ein Netzwerk verschiedenster Akteure deutschlandweit agierte.
Helmut Kentler galt als der Experte für Sexualaufklärung und für Reformpädagogik. Er war ein geschätzter Pädagoge, der für die sexuelle Befreiung eintrat - und für Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern. Anfang der 1970er-Jahre überzeugte er das Landesjugendamt West-Berlin von seiner Forschungsidee: Jungen vom Straßenstrich am Bahnhof Zoo sollten in die Obhut von Pflegevätern gegeben werden.
Die drei Männer, die er als Erstes auswählte, waren vorbestrafte Pädokriminelle. Seine Kernthese damals: Nur Pädophile könnten schwer erziehbare Kinder lieben. "Mir war klar, dass die drei Männer vor allem darum so viel für 'ihren' Jungen taten, weil sie mit ihm ein sexuelles Verhältnis hatten."
Doch das Wirken Kentlers ging über diese drei Männer deutlich hinaus. Inzwischen gibt es drei Forschungsberichte, die auch die Verstrickungen des Berliner Landesjugendamtes in die Duldung, Unterstützung, Ermöglichung von sexualisierter Gewalt untersuchten. Es seien "unsägliche Experimente" gewesen, sagt Berlins Jugendsenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) bei der Vorstellung des Abschlussberichtes der Universität Hildesheim (.pdf). Sie spricht vom bedrückendsten Kapitel in der Geschichte der Kinder- und Jugendhilfe.
Missbrauch institutionalisiert, Täter geschützt
Der neue Bericht zeigt, dass Kentlers Wirken weit über das hinausgegangen ist, was er selbst als sein Experiment beschrieben hat. Gezielt haben Männer Jungen aus Berliner Heimen privat in Pflege genommen, gezielt wurden Jungen in Wohngemeinschaften untergebracht und in der Odenwaldschule. In den 1990er-Jahren wurden dort Missbrauchsfälle öffentlich.
Kentler war nicht allein. Von den 1960er-Jahren bis in die 2000er-Jahre existierte ein bundesweites Netzwerk angesehener Reformpädagogen, Jugendamtsmitarbeiter, Sozialarbeiter. "Das Netzwerk ermöglichte deutschlandweit sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen, institutionalisierte den Missbrauch und schützte die Täter." Der Abschlussbericht nennt Namen: "gegenwärtig als belegt festgehalten werden kann, dass Gerold Becker, Herbert E. Colla-Müller und Helmut Kentler sexualisierte Gewalt ausgeübt haben."
"Es gab starke Signale, dass etwas nicht stimmt"
Ausgangspunkt des Bündnisses war das Pädagogische Zentrum der Universität Göttingen. Mehrere Akteure haben dort studiert oder im "Haus auf der Hufe" als Sozialpädagogen Jugendarbeit gemacht - mit schwer erziehbaren Jugendlichen in prekären Lebenssituationen. Auch gegen das Heim gab es damals Missbrauchsvorwürfe, weil Mitarbeiter mit Jungen in den Urlaub fuhren, Grenzen überschritten haben sollen. Später sitzen einige von ihnen an den Schnittstellen von Jugendämtern, therapeutischen Wohngruppen. Gerold Becker wurde Leiter der Odenwaldschule.
Die Auswertung von Akten des Berliner Jugendamtes ergibt, dass Kentler und seine Mitstreiter sich immer an die gleichen Mitarbeiter gewandt haben, um Jungen zu vermitteln. Der Rest ist nicht eingebunden oder schaut weg. "Es gab starke Signale, dass bei den Pflegestellen etwas nicht stimmt. Dem wurde nicht nachgegangen", beschreibt es Julia Schröder von der Universität Hildesheim. Die Autorinnen des Berichts sprechen von einem machtvollen Zusammenwirken von Wissenschaft, Fachexperten und Behörden.
Schutzmechanismen um Kentler greifen bis heute
Wie viele Betroffene es gab, ist bis heute unbekannt. Ins Rollen brachten das Verfahren zwei Männer, die als Sechsjährige als Pflegekinder zu einem Pädokriminellen kamen. Inzwischen haben sich weitere Betroffene gemeldet und so einen Beitrag für die Aufarbeitung dieses Kapitels geleistet. Den Wissenschaftlerinnen ist es wichtig, dass das nicht das Ende ist, auch wenn das Land Berlin keine weitere Förderung in Aussicht stellt.
Immerhin, Berlins Jugendsenatorin will auf der Familienministerkonferenz für eine bundesweite Aufarbeitung des "Kentler-Experiments" werben, da jetzt eindeutig belegt ist, dass der Fokus auf Berlin viel zu klein war. Bis das entschieden ist, wird die Forschergruppe allein weitermachen. Sie hofft, dass weitere Betroffene sich bei ihnen melden, auch wenn das ein schwerer Schritt sei.
"Die Aufarbeitung kann nicht zu Ende sein. Es gibt keinen Schlussstrich", sagt Wissenschaftlerin Schröder. Was die Forscher auch sagen, ist, dass die Schutzmechanismen um Kentler und die anderen zum Teil bis heute greifen. Die sexualisierte Gewalt werde bagatellisiert, die Erfahrungen der Betroffenen klein geredet, zu Einzelfällen gemacht oder aber als Teil des damaligen Zeitgeistes beschrieben. Bis in die 1990er-Jahre lehrte Kentler an der Universität Hannover, schrieb Gutachten in Missbrauchsfällen - für die Angeklagten.