Opfer sexualisierter Gewalt Retraumatisierung statt Hilfe?
In Beratungsstellen für Opfer sexualisierter Gewalt von "El Faro" sollen Hilfesuchende retraumatisiert und menschenunwürdig behandelt worden sein, wie Betroffene Vollbild berichten. "El Faro" bestreitet die Vorwürfe.
"Am Anfang hat's mich positiv gestimmt, war ich euphorisch", beschreibt die 36-jährige Friederike M. ihre ersten Wochen beim Opferschutzverein "El Faro" in Hamburg. Weil sie Missbrauch durch ihren Vater erlebt habe, habe sie dort nach Hilfe gesucht. Doch das gute Gefühl habe nicht lange angehalten: "So schnell wie ich wieder oben war, war ich auch wieder unten."
Friederike M. sei in dem Opferschutzverein retraumatisiert worden, sagt sie. Das beschreiben auch andere Frauen, mit denen Vollbild im Laufe der etwa einjährigen Recherche Kontakt hatte. "El Faro"-Vereine gibt es jeweils in Hamburg, Berlin und Hannover. Der erste Verein wurde vor mehr als 25 Jahren in der Hansestadt gegründet. Vorsitzender aller drei Vereine ist Dietmar Schoof.
Zu "El Faro" gehören auch eine "Begegnungsstätte" und ein so genanntes "Inzesthaus" im niedersächsischen Leese. Auf seiner Homepage bezeichnet sich "El Faro" als "Verein zur Hilfe und Unterstützung von Opfern sexuellen Missbrauchs & Gewalt" und als "Seelenlotse". Er wirbt mit "Menschlichkeit", "fundierter Fachausbildung" und "Erfahrungsexpertise". Bundesweit bekannt wurde "El Faro" durch positive Berichterstattung in mehreren TV-Dokus.
Doch im Interview mit Vollbild erheben Betroffene, die bei "El Faro" Schutz gesucht hatten, jetzt schwere Vorwürfe: Es geht dabei um Manipulation, das Einreden falscher Missbrauchs-Erinnerungen und Retraumatisierung durch fragwürdige Methoden. Es geht um Isolation und menschenunwürdige Zustände in so genannten "Schutzhäusern", um einen traumatisierenden Umgang mit Sexualität sowie um finanzielle Ausbeutung. Expertinnen und Experten kritisieren Methoden bei "El Faro" als fragwürdig.
Missbrauchsszenarien unter Druck erfunden?
Die Zeit bei "El Faro" habe ihr seelischen Schaden zugefügt, sagt Friederike M. heute. In Selbsthilfegruppen und kostenpflichtigen Beratungen habe sie sich immer wieder mit dem Erlebten befassen müssen. Zudem sei ihr suggeriert worden, dass ihr neben sexuellem Missbrauch auch Folterungen und Demütigungen angetan worden seien, die ihr zufolge jedoch nie stattgefunden hätten. Die gebürtige Schleswig-Holsteinerin habe sich immer mehr unter Druck gesetzt gefühlt und schließlich sogar Missbrauchsszenarien erfunden.
Dass ein Mensch so traumatische Erlebnisse wie sexuelle Gewalt oder Folter langfristig verdrängen könne, sei nicht belegt, sagt Psychologie-Professorin Aileen Oeberst von der Fernuniversität Hagen. "Es gibt keine einzige Studie, die die Idee von Verdrängung, also dass wir solche traumatischen Ereignisse wirklich aus dem Bewusstsein herausschieben und gar nicht wieder erinnern können, belegt", so Oeberst.
Tatsächlich könnte das menschliche Gehirn aber Pseudoerinnerungen entwickeln, die nicht von echten Erinnerungen zu unterscheiden sind. Diese können suggestiv hervorgerufen werden. Zum Vorwurf, dies sei bei Friederike M. so geschehen, schweigt der Verein.
"Klare Reviktimisierung"
Gleich zwei Frauen beschreiben im Interview mit Vollbild fragwürdige Therapiemethoden in den Vereinen. So sei ihnen im Rahmen einer sogenannten "Konfrontationstherapie" bei "El Faro" eine Plastiktüte über den Kopf gestülpt worden.
Dass eine solche "Übung" stattfinde, räumt Vorsitzender Dietmar Schoof gegenüber Vollbild ein. Jedoch "im Rahmen einer Selbstverteidigungsübung und das auch nur zu Demonstrationszwecken und zum Aufzeigen der entsprechenden Abwehrmaßnahmen gegenüber einem auf diesem Wege agierenden Täter".
Über solche Methoden zeigt sich Jörg Fegert entsetzt. Der ärztliche Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie Ulm befasst sich schwerpunktmäßig mit Kinderschutz, Trauma und Missbrauch. "Für Personen, die ohnehin schon Schlimmes erfahren haben, ist das eine ganz klare Reviktimisierung", urteilt der Experte.
Auch Franziska Ullrich, Leiterin der Fachberatungsstelle Zornrot in Hamburg, kennt Vorwürfe wie diese: "Ich habe von Klientinnen gehört, die selbst da waren und die bestätigt haben: 'Wir werden da in Räume eingesperrt'", berichtet die zertifizierte Traumapädagogin. Auch Zugang zu Toiletten habe es in ihr geschilderten Fällen nicht gegeben.
Gegenüber Vollbild schilderten gleich mehrere Frauen, die verschiedene Schutzwohnungen und -häuser von "El Faro" bewohnten, wie ihnen Toilettengänge verweigert worden seien. In Berichten über abgeschlossene Zimmertüren, Kontaktverbot zur Außenwelt und bewaffnete Mitarbeiterinnen zeichnen sie dabei ein Klima der Angst.
Vollbild wurden Dokumente zugespielt, die vom 1. Vorsitzenden von "El Faro", Dietmar Schoof, stammen sollen. Auch daraus geht hervor, dass Betroffene von sexualisierter Gewalt in einem andauernden Alarmzustand gehalten werden sollen.
"El Faro"-Vorsitzender Schoof bestreitet menschenunwürdige Bedingungen. Auch sei es nicht korrekt, dass man nicht auf Toilette gehen könne. Alles geschehe freiwillig. Eine Gefahr der Reviktimisierung bestehe nicht. Auch erzeuge man keine "Stimmung der Angst", diese existiere vielmehr, weil die Personen im Schutzhaus durch Täter "massiv bedroht" würden.
Vereine bei Sektenberatungen bekannt
"Jede Traumatherapie startet eigentlich mit einer Phase, in der man einen sicheren Ort hat. Aber der sichere Ort ist kein Kampfplatz (...), sondern es geht darum, dass man in einer Beziehung ankommt und eine gewisse Ruhe hat", erklärt Fegert. "Es grenzt an Freiheitsberaubung, wenn die Leute eingeschlossen werden", urteilt er. Insgesamt sieht er Merkmale für Sektendynamiken gegeben.
Die Sekteninfo NRW sagt dazu: "Die aufgebaute Struktur (...) führt nach Einschätzung der Sekteninfo eher zu einem gegenteiligen Effekt als dem ausgegebenen, das Leben wieder selbstbestimmt zu führen." Weitere Sektenberatungen bestätigen, in den vergangenen Jahren Menschen beraten zu haben, die sich in ihrer Not an "El Faro" gewendet hatten.
Vorsitzender Schoof weist den Vorwurf auf Anfrage zurück. Verbindungen zu Sekten-Merkmalen sehe er nicht. Auch gibt er an, es gebe "immer die Möglichkeit das Zimmer von innen, selbstständig aufzuschließen und über ein spezielles, nicht internetfähiges Schutztelefon die Mitarbeiterinnen vor Ort anzurufen oder auch den Notruf und die Polizei zu alarmieren."
Vorwurf der finanziellen Ausbeutung
Betroffene schildern zudem, sie hätten sich finanziell ausgebeutet gefühlt. So sei die Beratung bei "El Faro" anfangs kostenlos gewesen. Später sei Geld dafür verlangt worden. Vereinsvorsitzender Dietmar Schoof betreibt mit seiner Frau Ana Cecilia außerdem eine Heilpraktikerschule. In Kooperation mit ihr bietet "El Faro" sogenannte "Fachfortbildungen" zum Thema sexueller Missbrauch an. Betroffene sagen im Interview mit Vollbild, sie hätten sich unter Druck gesetzt gefühlt, an kostenpflichtigen Kursen teilzunehmen.
Den Vorwurf der finanziellen Ausbeutung bestreitet Schoof. "Zu keinem Zeitpunkt wurden Personen von uns finanziell ausgebeutet", schreibt er Vollbild. "Es entspricht nicht den Tatsachen, dass wir Beratungsgespräche und Hilfe verwehren würden, wenn diese nicht bezahlt werden würden."
Die Vereine werden zum Teil auch aus öffentlichen Geldern finanziert. Nach Vollbild -Recherchen bezogen die Vereine in Hamburg und Berlin seit 2010 zusammen mehr als 110.000 Euro aus sogenannten Sammelfonds. Das sind Geldbeträge, die zum Beispiel durch Bußgeldzahlungen zusammenkommen.
Gemeinnützige Einrichtungen haben die Möglichkeit, hieraus zweckgebunden Geld zu beziehen. Die Justizbehörde in Hamburg schreibt auf Anfrage, sie habe die Vorwürfe gegen "El Faro" rechtlich geprüft und das zuständige Finanzamt informiert.
Missbrauchsbeauftragte ohne Handhabe
Vollbild hat die Recherchen der unabhängigen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Kerstin Claus, vorgelegt. Ihr sind die "El Faro"-Vereine und Vorwürfe, die Vereine würden Leute einsperren, isolieren und sie massiv mit Gewalterinnerungen konfrontieren, nach eigenen Angaben bekannt. "All das, was wir da hören, hört sich nicht danach an, als ob Betroffenen dort geholfen wird", sagt Claus.
Ihr fehle jedoch die Handhabe, gegen den Verein vorzugehen. "Und dadurch, dass diese Instrumente nicht vorliegen, können wir nur für unseren Rahmen sagen: Mit wem arbeiten wir zusammen? Wer wird auf unserem Portal empfohlen? Das heißt, mein Instrument ist auf eine gewisse Art und Weise, die Nicht-Erwähnung", so Claus.
Außerdem empfehle sie dem Fonds Sexueller Missbrauch, "El Faro" nicht zu fördern. Das Bundesinnenministerium, das für ein Verbot des Vereins zuständig wäre, schreibt auf Anfrage, man kenne die Vereine und die Vorwürfe nicht.