Interview

Interview mit Jörg Schönenborn ''Die Deutschen wollen kein anderes System''

Stand: 03.11.2006 11:00 Uhr

Seit 1998 stellt Infratest dimap die Frage, ob die Deutschen mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden sind. Zum ersten Mal hat die Mehrheit mit "Nein" geantwortet. Das heiße aber nicht, dass die Menschen diese Staatsform ablehnten, sagt ARD-Experte Schönenborn im tagesschau.de-Interview.

Seit 1998 stellt Infratest dimap die Frage, ob die Deutschen mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden sind. Zum ersten Mal hat die Mehrheit mit "Nein" geantwortet. Das heiße aber nicht, dass die Menschen diese Staatsform ablehnten, satgt ARD-Experte Schönenborn im tagesschau.de-Interview. Es sei allerdings ein alarmierendes Signal für die Unzufriedenheit im Land.

tagesschau.de: Auf die Frage "Sind Sie zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland“, haben 51 Prozent mit „Nein“ geantwortet. Stellen die Deutschen jetzt plötzlich die Demokratie an sich in Frage?

Jörg Schönenborn: Nein, das ganz sicher nicht. Die Zahlen darf man nicht so verstehen, als wollten 51 Prozent der Deutschen ein neues Gesellschaftssystem. Wir betrachten das als eine Trendfrage, die ein Maßstab für die Unzufriedenheit der Menschen ist, genau wie die Frage nach der Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Das Alarmsignal liegt aus unserer Sicht darin, dass wir die Frage nach dem Funktionieren der Demokratie seit 1998 stellen, und dass jetzt zum ersten Mal mehr als 50 Prozent "Nein“ sagen.

tagesschau.de: Haben Sie Erkenntnisse darüber, woran das liegt?

Schönenborn: Wir machen diese Umfragen per Telefon und da sind Warum-Fragen immer schwierig. Aber einen Hinweis könnte die Frage nach dem Gerechtigkeitsgefühl geben, die wir ja auch gestellt haben. Seit Monaten beobachten wir, dass die Menschen immer mehr das Gefühl haben, in Deutschland gehe es ungerecht zu. Die Zahl ist im November auf 66 Prozent gestiegen. Das Schlüsselwort "Gerechtigkeit“ drückt sehr deutlich aus, was die Leute im Moment im politischen Prozess stört. Ich denke, dass das starke Empfinden von Ungerechtigkeit eng damit zusammenhängt, dass so viele das Gefühl haben, die Demokratie funktioniere nicht mehr richtig.

tagesschau.de: Dabei sind die wirtschaftlichen Daten im Land so gut wie lange nicht mehr.

Schönenborn: Das stimmt, aber die Menschen haben in großer Zahl das Gefühl, dass sie selbst nicht davon profitieren. Das persönliche Gefühl von Wohlstand und Sicherheit und die guten Börsen- und Unternehmenszahlen – das passt nicht zusammen. Und daraus leitet sich dieses Unbehagen ab.

tagesschau.de: Könnte das Empfinden der Menschen, dass die Demokratie nicht gut funktioniert, auch damit zusammenhängen, dass Deutschland von einer Großen Koalition regiert wird?

Schönenborn: Das glaube ich weniger. Die Schwäche der beiden großen Parteien ist ja schon lange zu erkennen. Seit 30 Jahren nimmt die Zustimmung zu den Volksparteien ab. Die große Koalition mag den Prozess noch ein bisschen beschleunigen, aber sie ist ganz sicher nicht die Ursache.

tagesschau.de: Führt die Unzufriedenheit mit der Demokratie dazu, dass die Menschen sich vermehrt rechtsextremen Parteien zuwenden?

Schönenborn: Nein. Eigentlich ist es ein gutes Zeichen, dass wir bundesweit keine radikalen Tendenzen haben. Die NPD ist im Moment ein regionales Phänomen. Es ist ein positives Signal, dass es diese Tendenz bundesweit nicht gibt.

Die Fragen stellte Sabine Klein, tagesschau.de