Geschichte einer Zwangsarbeiterin ''Wir haben unser eigenes Ghetto gebaut''

Stand: 24.08.2007 19:54 Uhr

Zehn Milliarden Mark hat die Bundesregierung 2000 für die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter in der NS-Zeit zur Verfügung gestellt. Gestern endete das Auszahlungsverfahren. Die Jüdin Lili Alpar musste am Bau des Ghettos für die Juden in Osijek mitarbeiten.Die 83-Jährige wuchs im damaligen Jugoslawien auf und lebt seit rund 40 Jahren in Frankfurt am Main. Ihre Entschädigung investierte sie in die Zukunft.

Von Nicole Diekmann, tagesschau.de

Als Lili Alpar das erste Mal von Adolf Hitler hörte, nannten ihn die Erwachsenen den "Verrückten aus Deutschand“. Angst hatte Lili nicht: Deutschland lag weit entfernt vom jugoslawischen Osijek, wo sie lebte. Politik hatte wenig mit ihrem Leben zu tun. Lili träumte, wie junge Mädchen das eben tun. Von Jungs. Vom Abitur. Und Lili träumte von einer Heimat für ihr Volk, einer Heimat für die Juden. Lili war 16. Das war 1938.

Am 6. April 1941 fielen deutsche und italienische Truppen in Jugoslawien ein. Vier Tage später ereichte der Krieg Osijek. Und Lilis Leben. "Ich musste die Schule verlassen. Wir jungen Juden mussten arbeiten. Eine Siedlung bauen, auf einem Feld vor unserer Stadt. Ein Ghetto – unser eigenes Ghetto. Sie brauchten unsere Wohnungen“, erzählt sie.

In den kommenden zwei Stunden wird Lili Alpar meistens lächeln, wenn sie von ihrem Leben erzählt. Kerzengerade, trotz ihrer mittlerweile 83 Jahre, sitzt sie im deutschen Büro der Jewish Claims Conference (JCC) in Frankfurt am Main. Hier half man ihr, den Antrag zu stellen: den Antrag auf Zwangsarbeiterentschädigung.

Festhalten am Davidstern

Drei Monate lang war sie 1942 beim Bau des Ghettos in Osijek dabei. Sie grub den Boden um, schleppte Holzbalken, für die geplanten Baracken. Morgens zu Fuß hin, abends zu Fuß zurück, immer den Schikanen der Milizen ausgesetzt. Zusammen mit ihren Freunden, die sie von Kindesbeinen an kannte, mit denen sie ihre Vormittage in der Schule und die Nachmittage in der zionistischen Organisation verbracht hatte. Drei Monate – dann flüchtete Lili nach Ungarn. "Mein Vater sagte: 'Du bist jung, du musst weg hier. Wir Älteren schaffen das schon.'“

Nur wenige Wochen nach Lilis Flucht mussten die Osijeker Juden ins Ghetto umsiedeln, bald darauf wurden sie in den Zug gesetzt. Ziel: Konzentrationslager. Kaum einer von ihnen überlebte. Lilis Eltern, Großmutter und ihre Tante versuchten doch noch, zu flüchten. Kurz vor der Grenze nach Ungarn erwischte man sie. "Meine Mutter ist gleich am ersten Tag im Lager erschossen worden. Mein Vater hat länger gelebt, Freunde bekamen noch eine Karte von ihm. Er bat darum, ihm Essen ins Lager zu schicken. Er ist dann verhungert“, erzählt Lili Alpar – und das ist einer der wenigen Momente, in denen sie weint. Dann greift sie an die Kette um ihren Hals, als wolle sie sich daran festhalten. Die Kette trägt sie, seit sie vor knapp 40 Jahren mit ihrem Mann, einem Bauingenieur, nach Deutschland kam. "Jeder sollte sehen, wer ich bin“ – an der Kette hängt ein goldener Davidstern.

Jahre des Schweigens

Ihre jüdische Identität verleugnen musste Lili Alpar lange genug: Eine Christin war sie während ihrer Zeit in Ungarn – zumindest laut der gefälschten Geburtsurkunde, dank derer sie überlebte. Die ehemalige Gymnasiastin arbeitete in einer Fabrik in Budapest. Oft fiel es ihr schwer, ihre Tarnung aufrechtzuerhalten. "Ständig musste ich bei der Arbeit hören, wie schlecht sie über Juden sprachen.“ Ein paar Male wäre sie fast aufgeflogen. "Meine Cousine und ich teilten uns eine Wohnung direkt unter dem Dach. Wir hatten oft heimlichen Besuch von einer Jüdin aus Rumänien. Wenn dann Bombenalarm war, musste sie sich oben verstecken. Wir saßen dann im Keller und hatten Angst – vor allem um sie“, sagt Lili Alpar.

Lange konnte und wollte sie über diese Jahre nicht reden. Nach dem Krieg zog Lili zu ihrer Schwester nach Belgrad und blickte nach vorn: suchte sich Arbeit, lernte ihren heutigen Mann kennen, bekam zwei Kinder, ging 1962 nach Frankfurt am Main. Als sie fast 40 Jahre später den Kontoauszug mit der Entschädigungszahlung in den Händen hielt, kam es plötzlich hoch, alles, was sie vergessen geglaubt hatte: "Das war wie ein Film über die, die mit mir gearbeitet haben, die dann verschleppt wurden und nicht zurückgekommen sind. Die es nicht mehr bekommen konnten, weil sie tot sind.“ Die Erinnerung vergeht nicht. Heute Nacht werde sie nicht schlafen können, sagt Lili Alpar.

"Viel Zeit bleibt uns nicht mehr"

Zu dem Haus, in dem sie überlebte, ist sie noch einmal zurückgekehrt: Von der Entschädigungszahlung lud sie ihre Familie nach Budapest ein, ihren Mann, die Kinder. Und die vier Enkel, für deren Zukunft Lili Alpar das Geld so nutzen wollte. "Für mich brauchte ich nichts. Ich bin zufrieden mit meinem Leben." Die Enkel sollen Leugnern des Holocaust etwas entgegensetzen können, wenn kein Zeitzeuge das mehr kann: "Wenn jemand sagen wird: 'Ach was, das ist eine Lüge, was man erzählt', dann können sie sagen: 'Nein, meine Oma hat das überlebt. Ich habe es gesehen.'“ Deshalb hatte es Lili Alpar so eilig mit dem Entschädigungsantrag: "Wir Überlebenden sind alle alt. Viel Zeit bleibt uns nicht mehr.“