Stadtentwicklung in Berliner Viertel Fette Henne statt Parkplätze
Weniger Autos, weniger Parkplätze und dadurch mehr Platz für alle: Das hat sich der Graefekiez in Berlin-Kreuzberg zum Ziel gesetzt. Jetzt hat das Pilotprojekt begonnen. Es bleibt in der Nachbarschaft umstritten.
"Ich bin Henrik, und meine Frau Shirley und ich haben uns gemeldet für das Stück da." "Das Stück da" ist ein kleines Beet, wo bis vor kurzem noch ein Parkplatz war. Noch sieht man nur graubraune Muttererde, umstellt von rot-weiß gestreiften Baustellenabsperrungen.
Etwa 90 Parkplätze sind in der Böckh- und in der Graefestraße verschwunden. Hier sollen Beete entstehen, Platz für Fahrradständer oder fürs Boulespielen, Halteflächen für den Lieferverkehr oder für sogenannte Parklets - aus Holz gezimmerte Zwitter aus Sitzbank und Blumenkübel. Und die Anwohnerinnen und Anwohner, wie zum Beispiel Henrik und Shirley, sollen die neuen Freiflächen mitgestalten.
Etwa zwei Dutzend Interessierte sind an diesem Abend zusammengekommen im Graefekiez in Berlin-Kreuzberg. Sie sollen sich kennenlernen, damit sie sich beim Gärtnern künftig gegenseitig unterstützen können, erzählt Simon Wöhr vom Verein "paper planes". Der Verein für nachhaltige Stadtentwicklung unterstützt das Bezirksamt bei der Umgestaltung.
Mehr Platz und Sicherheit für alle
Im Graefekiez ist ein Pilotprojekt gestartet, oder ein "Feldversuch", wie sie im Bezirksamt sagen. Die Kernfrage lautet in etwa: Wie gehen Städte künftig damit um, dass oft nicht mehr genug Platz für alle da ist - für Fußgänger, Radfahrer, Privat-PKW und Lieferverkehr, für Anwohner und Touristen, für Schülerinnen, Schüler und Kita-Kinder? Wie macht man für sie alle den Verkehr sicherer, und ganz nebenbei die Stadt auch noch robuster gegen den Klimawandel? Indem man erstmal möglichst viele Parkplätze abschafft - so könnte man den Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg vom Sommer 2022 auf den Punkt bringen.
Schon seit den 1980er Jahren ist der Graefekiez in Berlin-Kreuzberg verkehrsberuhigt. Doch oft kamen sich Fußgänger, Radfahrer, Autos und Lieferwagen weiter in die Quere. Der Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung vom Sommer 2022 sollte das ändern. Doch er sorgte für Unruhe. Ursprünglich war nämlich geplant, dass im ganzen Viertel Parkplätze verschwinden.
Weniger Parkplätze, dafür mehr Grün im Viertel: Nicht alle sind von den Ideen des Pilotprojekts begeistert
"Die Leute hatten das Gefühl, morgen sind die Poller da und ich komme nicht mehr zu meiner Wohnung. Da hat es dann gebrodelt im Kiez und da haben sich viele auch dagegen ausgesprochen", erinnert sich Wöhr von "paper planes", dem Verein für nachhaltige Stadtentwicklung. Deshalb wurde das Projekt auf zwei Straßenzüge beschränkt. Und der Verein hat eine wöchentliche Bürgersprechstunde direkt im Kiez eingerichtet.
Die zuständige Bezirksstadträtin von den Grünen, Annika Gerold, ist überzeugt, dass das geholfen hat. Sie beobachte, dass nicht mehr so viel Kritik ankomme, seit die Umsetzung gestartet sei und auch weitere Flächen für die Bepflanzung geschaffen würden. Gerold hofft sogar, dass das Pilotprojekt auf den ganzen Grafekiez ausgeweitet wird und Inspiration für andere Berliner Bezirke wird.
Bedenken von Anwohnern und Gewerbetreibenden
Im Graefekiez selbst allerdings sind bis heute nicht alle überzeugt. Traudl Kellermann und Brigitte Göring zum Beispiel: Die eine hat ein Versicherungsbüro hier, die andere ein Uhrmacher- und Juwelier-Geschäft. Wenn nun die Parkplätze fehlen, könnten ihre Kunden wegbleiben, fürchten die beiden - denn die kommen zumeist mit dem Auto.
Außerdem mag sie nicht ungefragt Teilnehmerin in einem Pilotprojekt sein, erzählt Kellermann: "Wir sind ja ein Experiment. Man will gucken, was wir alles mitmachen und uns bieten lassen, oder auch nicht. Natürlich gibt es Leute, die das alles ganz toll finden, aber es gibt halt auch die anderen."
Statt Parkplätzen sollen nun sogenannte Parklets mehr Lebensqualiät in das Viertel bringen.
Zum Beispiel auch die Fahrschule ein paar Häuser weiter. Wenn die Schülerinnen und Schüler ihre Fahrstunde antreten, hat die Fahrschule dafür früher freie Parkplätze im Viertel genutzt. Ob er nun Extra-Stellflächen bekommt, weiß Inhaber Dominic Blume noch nicht. "Die Kommunikation ist nicht besonders gut: Es begann damals 2022, dass es hieß, 2.000 Parkplätze werden abgebaut, man ist ungefähr ein Dreivierteljahr lang in Ungewissheit gehalten worden."
Grundsätzlich findet Blume das Projekt aber gut. Er weise seine Fahrschülerinnen und -schüler im Theorieunterricht immer daraufhin, dass es neben dem Auto auch noch andere Mobilitätsangebote gebe. "Sonst sind die Straßen voll. Da hilft dann auch nicht mehr der Führerschein, wenn man nirgendwo mehr hinkommt", so der Fahrlehrer.
ÖPNV, Car-Sharing, E-Scooter und E-Bikes zum Ausleihen sieht auch das Pilotprojekt als Alternativen vor, wenn künftig nicht mehr so viele mit dem Auto in den Graefekiez fahren, weil dort nun Parkplätze fehlen. Und wer früher hier geparkt hat, der kann sein Auto in einem nahegelegenen Parkhaus abstellen.
Henrik und Shirley bepflanzen ihr Beet: "Vorne Blech, hinten Blech und dazwischen Blumen, immerhin!"
Pilotprojekt mit offenem Ende
Henrik und Shirley wollen auf ihrem neuen Beet im Graefekiez, wo einst ein Parkplatz war, zuerst Fette Henne anpflanzen. Das ist ein Staudengewächs mit dicken fleischigen Blättern und kräftig rosafarbenen Blüten, das jetzt im Herbst erst richtig auflebt. "Wollen wir die in die Mitte setzen?", fragt Henrik. "Wenn Du magst", sagt Shirley und reicht ihm eine Staude.
Dass vor ihrem Beet noch ein Renault Clio steht und gleich hinter ihnen ein alter weißer S-Klasse-Benz, stört die beiden nicht. "Die Stadt ist ja für alle da, auch für die Autofahrer", sagt Henrik. "Und ein bisschen haben wir uns jetzt zurückgeholt von den Autofahrern."
Mindestens bis zum Frühjahr dürfen die beiden ihr Beet nun bestellen, das einst ein Parkplatz war. Dann soll die Bezirksverordnetenversammlung beschließen, ob das Pilotprojekt im Graefekiez weitergeht.