Wolodymyr Selenskyj und Olaf Scholz geben sich die Hand.
analyse

Münchner Sicherheitskonferenz Selenskyj überstrahlt Scholz und Merz

Stand: 15.02.2025 15:52 Uhr

Kanzler Scholz und Unionskanzlerkandidat Merz reagieren mit Kritik auf den Auftritt von US-Vizepräsident Vance. Weiter geht der ukrainische Präsident: mit einer konkreten Forderung Richtung Europa.

Von Demian von Osten, ARD-Hauptstadtstudio, zzt. in München

Der Kanzler wirkt müde. Wochenlanger Wahlkampf steckt Olaf Scholz in den Knochen. Zahlreiche Interviews, endlose Wahlkampftermine, die Pflichten als Bundeskanzler. Doch in seiner Rede kommt Scholz sofort auf die provozierende Rede von US-Vizepräsident JD Vance gestern zu sprechen. Er erinnert an den Leitsatz: Nie wieder Faschismus. "Ein Bekenntnis zum 'Nie wieder' ist nicht mit einer Unterstützung für die AfD vereinbar."

Die Rede von Vance weist er entschieden zurück. "Das gehört sich nicht", sagt Scholz. "Wie es mit unserer Demokratie weitergeht, das entscheiden wir selbst!" Und: "Als starke Demokratie halten wir es für absolut richtig, dass die extreme Rechte außerhalb der politischen Verantwortung sein soll." Zwischenapplaus.

Eckhart Querner, BR, mit Beobachtungen und Reaktionen von der Münchner Sicherheitskonferenz

tagesschau24, 15.02.2025 16:00 Uhr

Völlig anderer Stil als Vance

Doch im Stil könnte der Unterschied zu Vance am Vortag kaum größer sein. Scholz wirkt wie der analytische, etwas langweilige Jurist. Seine Stimme ist so leise, dass selbst die Saalmikrofone sie nur schwach verstärken können. Fakten, Appelle an die Vernunft - was für ein Kontrast zum vor Selbstbewusstsein nur so strotzenden US-Amerikaner Vance, der mit lauter Stimme und fragwürdigen Fakten den Europäern gestern die Leviten gelesen hatte. 

Scholz’ Rede bietet ansonsten viele bekannte Positionen zur Ukraine. "Wer Grenzen mit Gewalt verschieben will, der legt die Axt an unsere Friedensordnung," sagt der Kanzler. Scholz kündigt an, dass Europas Verteidigungsausgaben weiter wachsen werden, "damit wir Europäer weiter in Frieden leben". Er spricht über eine Stärkung der europäischen Rüstungsindustrie und schlägt vor, den europäischen Stabilitätspakt für Verteidigungsausgaben ab einer bestimmten Höhe auszusetzen.

Selenskyj fordert europäische Armee

Doch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj stiehlt Scholz kurz danach die Show - als Warner und auch als Optimist. Er bekommt fast eine Minute Applaus, als er die Bühne in einem dunklen Oberteil mit dem ukrainischen Wappen auf der Brust betritt. Nach wenigen Minuten überrascht er das Publikum mit einem weitreichenden Vorschlag: "Ich bin sicher, dass die Zeit gekommen ist, eine europäische Armee zu gründen" - und schiebt die Begründung gleich nach: "Damit die Zukunft Europas nur von Europa abhängt und die Sicherheit Europas in den Händen Europas liegt." 

Erneut ist Selenskyj derjenige, der die sicherheitspolitischen Voraussetzungen am weitesten denkt, der den Europäern einen Weg aufzeigt, was man tun könnte angesichts des drohenden Rückzugs der USA aus der europäischen Sicherheitsarchitektur. "Eine europäische Armee", eine "einheitliche europäische Außenpolitik". Es ist eine Rede, die man sich auch von einer EU-Kommissionspräsidentin hätte vorstellen können. 

Selenskyj warnt vor russischer Bedrohung

Selenskyj erinnert an immer neue Bedrohungen durch Russland: Man habe Geheimdiensthinweise, dass Russland Truppen Richtung Belarus schicke. Die nordkoreanischen Soldaten in Kursk hätten den harten modernen Krieg gelernt. "Wenn Russland zu euch kommt, wärt ihr genauso bereit zu kämpfen wie wir?", fragt er das Publikum.

Und im Weißen Haus sitze nun ein Donald Trump, der im Gespräch mit Putin nicht einmal gesagt habe, dass Europa bei Friedensgesprächen zur Ukraine mit am Tisch sitzen müsse. "Keine Entscheidungen über die Ukraine ohne die Ukraine, keine Entscheidungen über Europa ohne Europa", sagt Selenskyj - und bekommt lauten Applaus. Ausweichend antwortet Selenskyj allerdings bei der Nachfrage nach Präsidentschaftswahlen und seinem Konflikt mit dem Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko.

Stephan Stuchlik, ARD Berlin, zur Rede des ukrainischen Präsidenten Selenskyj

tagesschau, 15.02.2025 17:00 Uhr

Merz: "Weckruf für den gesamten Kontinent"

Und dann ist da noch ein Akteur, der die Sache gelassen angehen kann. Friedrich Merz trägt noch keine Verantwortung für Deutschland, wird aber schon als neuer Kanzler wahrgenommen. Die Moderatorin spricht ihn fälschlicherweise als "Kanzler" statt als "Vorsitzenden" an. Merz fühlt sich sichtlich geschmeichelt.

Er attackiert dann auch Vance, der längst abgereist ist. Am Tag, an dem das Weiße Haus eine Nachrichtenagentur aus dem Weißen Haus verbanne, kritisiere Vance die angeblich eingeschränkte Meinungsfreiheit in Europa. Hier habe man eigene Regeln, sagt Merz: "Freie Rede bleibt freie Rede, aber Fake News, Hassrede und Beleidigungen haben gesetzliche Grenzen."

"Ich bin nicht bereit, nur über Geld zu sprechen", stellt Merz klar. Man brauche eine Reduktion der Komplexität in der europäischen Verteidigungsindustrie. "Standardisierung, Vereinfachung, Skaleneffekte sind mindestens so wichtig wie Geld." Aber man müsse etwas tun. "Wenn wir nicht jetzt den Weckruf hören, dann könnte es zu spät sein für den gesamten Kontinent," sagt Merz. Es gebe offensichtlich eine fehlende Führung durch Deutschland in Europa, sagt Merz. Und er sei willens, das zu ändern. "Das ist jetzt wichtiger als je zuvor."

Ansonsten bleibt Merz bei vielen Themen zurückhaltend, lehnt sich mit verschränkten Beinen zurück auf dem kleinen weißen Sessel auf der Bühne. Er liegt in Umfragen so weit vorn, dass er bloß keinen Fehler machen darf - auch nicht hier auf der Bühne der Münchner Sicherheitskonferenz.

US-Vizepräsident Vance hat die Konferenz gestern mächtig aufgewühlt, viele irritiert. Heute ist Selenskyj derjenige, der Hoffnung ausstrahlt. Er erinnert an jenen Optimismus, den er seinem eigenen Volk mitgebe: "Wir wollen überleben. Aber wir müssen lächeln, wenn wir es können."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 15. Februar 2025 um 17:00 Uhr.