Rechtsfragen rund um die Causa Wulff Wie immun ist der Bundespräsident?
In der Affäre um Bundespräsident Wulff bereitet die SPD in Niedersachsen jetzt ein sogenanntes Organstreitverfahren vor - sie will vom Staatsgerichtshof klären lassen, ob Wulff als Ministerpräsident dem Landtag nicht die volle Wahrheit gesagt hat. Zugleich ermittelt die Staatsanwaltschaft unter anderem wegen Bestechlichkeit gegen Wulffs ehemaligen Sprecher Glaeseker. tagesschau.de klärt die juristischen Fragen dazu.
Von Frank Bräutigam, SWR
Was genau hat es mit der angekündigten Klage in Niedersachsen auf sich?
Es geht nicht um eine Klage gegen Christian Wulff persönlich. Möglich wäre ein sogenanntes "Organstreitverfahren" vor dem Niedersächsischen Staatsgerichtshof, dem niedersächsischen Landesverfassungsgericht. Er kann unter anderem angerufen werden, wenn es Streit zwischen Landtag und Landesregierung um Rechte aus der Verfassung gibt. Die "Kontrahenten" im vorliegenden Fall wären: ein Landtagsabgeordneter gegen die Landesregierung.
Wer würde um was streiten?
Kläger (juristisch korrekt: Antragssteller) soll in diesem Fall der Landtagsabgeordnete Heiner Bartling (SPD) sein, nicht die SPD als Partei oder die SPD-Fraktion im Landtag. Bartling hatte als Abgeordneter eine Frage zur Finanzierung des "Nord-Süd-Dialogs" an die Landesregierung gestellt. Er könnte rügen, dass die Landesregierung aus seiner Sicht ihre Pflicht aus Artikel 24 der Landesverfassung verletzt hat, Fragen von Abgeordneten im Landtag "nach bestem Gewissen unverzüglich und vollständig zu beantworten". Beklagte (korrekt: Antragsgegnerin) wäre die Landesregierung, und zwar abstrakt als Verfassungsorgan. Die jetzige Regierung müsste also das Verhalten der Regierung Wulff verteidigen. Gegenstand des Organstreits wäre allerdings nur das Recht des Abgeordneten auf korrekte Information. Ob Wulff gegen das Ministergesetz verstoßen hat, das eine Annahme von Geschenken untersagt, würde in diesem Verfahren nicht geprüft.
Wie würde das Verfahren ablaufen?
Zum schriftlichen Antrag des Abgeordneten könnte die Landesregierung Stellung nehmen. Nach einer mündlichen Verhandlung würde das mit neun Richterinnen und Richtern besetzte Gericht ein Urteil sprechen. Das Gericht würde feststellen, ob die Landesregierung gegen die Verfassung verstoßen hat oder nicht. Ein solches Verfahren kann sich über viele Monate hinziehen.
Könnte es konkrete Sanktionen geben?
Eine rechtliche Sanktion ist bei einem Organstreit nicht vorgesehen, es wird nur ein Verstoß gegen die Verfassung festgestellt oder nicht. Die Folgen wären dann rein politisch zu bewerten.
Gibt es andere aktuelle Beispiele für Organstreitverfahren?
Beispiel für diese Verfahrensart war die Klage der SPD-Fraktion im Landtag Baden-Württembergs gegen den Rückkauf der EnBW-Aktien durch die Regierung Mappus. Der Staatsgerichtshof Baden-Württemberg hatte im Oktober 2011 festgestellt, dass die Landesregierung gegen das Haushaltsrecht des Landtags verstoßen hat.
Wäre auch eine "Anklage" vor dem Staatsgerichtshof möglich?
Ja. Neben dem beschriebenen "Organstreit" sieht die Niedersächsische Landesverfassung auch vor, dass der Landtag - auch ehemalige - Regierungsmitglieder vor dem Staatsgerichtshof "anklagen" kann, weil sie nach ihrer Auffassung vorsätzlich gegen die Verfassung oder ein Gesetz verstoßen haben. Der Beschluss auf Erhebung der Anklage bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Landtages. Auch die Regierungsfraktionen müssten zustimmen, um diese Mehrheit zu erreichen. Im Rahmen einer "Anklage" beim Staatsgerichtshof könnte auch ein möglicher Verstoß gegen das Ministergesetz geprüft werden.
Könnte Wulff selbst ein Verfahren vor dem Staatsgerichtshof beantragen, um die Vorwürfe klären zu lassen?
Ja. Nach Artikel 40 Absatz 3 der Landesverfassung könnte er mit Zustimmung der Landesregierung eine Entscheidung des Staatsgerichtshofes über die öffentlichen Vorwürfe beantragen, etwa den möglichen Verstoß gegen das Ministergesetz. Man spricht auch vom sogenannten "Selbstreinigungsverfahren".
Wo liegt der Unterschied zu den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft?
Der Begriff der "Anklage" ist hauptsächlich aus dem Strafprozess bekannt. Bei den Ermittlungen der Staatsanwaltschaften Hannover oder Stuttgart geht es nicht um mögliche Verstöße gegen die Landesverfassung, sondern gegen das Strafgesetzbuch. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen einzelne Beschuldigte. Bislang hat die Staatsanwaltschaft Hannover ein Ermittlungsverfahren gegen Wulffs ehemaligen Sprecher Olaf Glaeseker wegen des Verdachts der Bestechlichkeit und gegen den Veranstaltungsmanager Manfred Schmidt wegen des Verdachts der Bestechung eingeleitet. Ein Ermittlungsverfahren gegen Wulff wegen des möglichen Verdachts der Vorteilsannahme haben die Staatsanwaltschaften in Hannover und Stuttgart bisher abgelehnt.
Was genau bedeutet "Bestechlichkeit" im strafrechtlichen Sinn?
Wegen Bestechlichkeit gemäß § 332 Strafgesetzbuch macht sich ein Amtsträger (z.B. ein Beamter, Richter, Minister) strafbar, der einen Vorteil als Gegenleistung dafür fordert oder annimmt, dass er eine Diensthandlung vorgenommen und dadurch seine Dienstpflichten verletzt hat.
Für mögliche "Vorteile" gibt es unzählige Beispiele, etwa direkte Geldzahlungen, Geschenke, Freikarten oder Urlaubsreisen.
Bestechlichkeit liegt aber nur dann vor, wenn sich zum Beispiel die Geldzahlung auf eine ganz bestimmte Diensthandlung bezieht, die dann auch noch pflichtwidrig sein muss. Beispiel: Geldzahlung als Gegenleistung für die Erteilung einer Baugenehmigung, die der Beamte nach dem Gesetz gar nicht hätte erteilen dürfen. Im Fall von Glaeseker ergibt sich der Anfangsverdacht laut Staatsanwaltschaft aus der möglichen Verknüpfung: kostenlose Urlaubsreisen gegen Einwerbung von Sponsorengeldern für eine private Veranstaltung in offizieller Funktion. Bei der Bestechlichkeit handelt es sich um ein gravierenderes Delikt als bei der "Vorteilsannahme". Dafür hat die "Vorteilsannahme" einen weiteren Anwendungsbereich.
Was ist der Unterschied zur strafrechtlichen "Vorteilsannahme"?
Die Vorteilsannahme (nicht "Vorteilsnahme", siehe § 331 Strafgesetzbuch) hat zwei wesentliche Voraussetzungen. Ein Amtsträger muss einen "Vorteil annehmen" - und zwar "für die Dienstausübung". Mögliche "Vorteile" sind dieselben wie bei der "Bestechlichkeit". Bei Wulff wurden in der öffentlichen Diskussion zum Beispiel die Konditionen des Privatkredits und des Kredits der BW-Bank sowie Urlaubsreisen angeführt.
"Für die Dienstausübung" bedeutet nicht, dass sich der gewährte Vorteil direkt auf eine konkrete Diensthandlung beziehen muss, also etwa - wie bei der Bestechlichkeit - Geld direkt gegen Erteilung einer Baugenehmigung angenommen wird. Die Strafbarkeit ist bei der Vorteilsannahme weiter gefasst als bei der Bestechlichkeit. Seit einer Gesetzesänderung im Jahr 1997 müssen auch Fälle der "allgemeinen Klimapflege" ohne ganz konkrete Gegenleistung erfasst werden, um dem "bösen Anschein" der Käuflichkeit von Amtsträgern entgegen zu wirken. Es reicht eine allgemeine Verknüpfung mit der Dienstausübung. Genau das ist hier der entscheidende und umstrittene Punkt. Die Praxis der Strafverfolgung zeigt: viel hängt von rechtlichen Wertungen der durchaus unbestimmten Begriffe und Kriterien ab. Dies spiegelt sich wider in den Entscheidungen der Staatsanwaltschaften sowie der geäußerten Kritik.
Wann beginnt die Staatsanwaltschaft mit einem offiziellen Ermittlungsverfahren?
Im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gibt es verschiedene Verdachtsstufen. Ein wichtiger Begriff ist der "Anfangsverdacht". Wenn die Staatsanwaltschaft einen Anfangsverdacht bejaht, muss sie ein offizielles Ermittlungsverfahren einleiten. Voraussetzung sind "zureichende tatsächliche Anhaltspunkte" für eine Straftat. Am Ende des Ermittlungsverfahrens kann sie entweder Anklage beim Strafgericht erheben, wenn aus ihrer Sicht eine spätere Verurteilung wahrscheinlich ist, oder das Verfahren einstellen, weil sich der Anfangsverdacht nicht erhärtet hat.
Bei Glaeseker und Schmidt sieht die Staatsanwaltschaft Hannover den Anfangsverdacht der Bestechlichkeit beziehungsweise der Bestechung. Bei Wulff sehen die Staatsanwaltschaften Hannover und Stuttgart nach aktuellem Stand keinen Anfangsverdacht, sie haben kein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart sagt, Zusammenhänge zwischen dem Kredit der BW-Bank und der Aufsichtsratstätigkeit von Wulff seien "bloße Vermutungen".
Renommierte Juristen wie Hans-Herbert von Arnim und Bernd Schünemann kritisieren die Ablehnung zumindest der Stufe des "Anfangsverdachts".
Was bedeutet die strafrechtliche "Immunität" des Bundespräsidenten?
Falls eine Staatsanwaltschaft künftig ein Ermittlungsverfahren gegen Wulff einleiten wollte, käme eine weitere Hürde ins Spiel. Grundsätzlich ist der Bundespräsident laut Grundgesetz während seiner Amtszeit vor Strafverfolgung geschützt (sogenannte "Immunität"). Sie greift auch bei Vorwürfen, die nicht in die Amtszeit fallen.
Strafrechtliche Ermittlungen gegen einen Bundespräsidenten sind dadurch aber nicht völlig ausgeschlossen, denn die Immunität kann aufgehoben werden. Hier gelten für den Bundespräsidenten dieselben Regeln wie für Bundestagsabgeordnete. Wenn eine Staatsanwaltschaft ein offizielles Ermittlungsverfahren gegen den Bundespräsidenten einleiten wollte, müsste sie die Aufhebung seiner Immunität beim Deutschen Bundestag beantragen. Für strafrechtliche Ermittlungen gegen Bundestagsabgeordnete hat sich die Praxis entwickelt, dass der Bundestag zu Beginn jeder Legislaturperiode eine generelle Genehmigung für Ermittlungsverfahren erteilt. Für eine Aufhebung der Immunität des Bundespräsidenten dürfte diese Verfahrensvereinfachung aber wegen der besonderen Bedeutung des Amtes eher nicht übertragbar sein. Einzelheiten sind bislang ungeklärt, einen Präzedenzfall gibt es nicht.
Kann der Bundespräsident in einem Strafverfahren oder einem Untersuchungsausschuss als Zeuge vernommen werden?
Ja. Wenn der Bundespräsident als Zeuge in einem Verfahren aussagen sollte, muss er laut Strafprozessordnung aber in seiner Wohnung beziehungsweise an seinem Dienstsitz vernommen werden. Zur Hauptverhandlung würde er nicht geladen. Das Protokoll über seine gerichtliche Vernehmung würde verlesen. Ansonsten hätte der Bundespräsident dieselben Rechte und Pflichten wie jeder andere Zeuge auch.