Hessen Gießener Bombennacht vor 80 Jahren: "Man hat nichts gesehen außer Feuer"
Vor 80 Jahren traf Gießen der schwerste Luftangriff in der Geschichte der Stadt. Große Teile lagen danach in Schutt und Asche. Zwei Zeitzeugen erinnern sich an die schicksalhaften Stunden.
Als am Abend des 6. Dezember 1944 die ersten Bomben auf Gießen fallen, bietet sich Horst Hilgardt ein geradezu surrealer Anblick. Er sitzt bei seinem Opa im Keller, in einem Haus in der Nähe des heutigen Amtsgerichts. Hierhin ist der Neunjährige mit seiner Familie geflüchtet, nachdem drei Tage zuvor eine Luftmine das Haus seiner Eltern an der Wieseck zerstört hat.
Jetzt tickt das Radio, alle warten auf die ersten Einschläge, und da hockt ihm gegenüber: ein Mann im Nikolauskostüm.
"Der war wohl auf dem Weg irgendwohin, um die Kinder zu beglücken, und hat sich dann zu uns reingemacht. Es ist schlimm, aber es war so. Ironie des Schicksals", erinnert sich Horst Hilgardt, inzwischen 89 Jahre alt.
Über vieles, was in diesen Tagen vor 80 Jahren in Gießen passiert ist, hat sich ein Schleier des Vergessens gelegt. Aber an den Nikolaus kann sich Hilgardt noch gut erinnern. Genau wie an die panischen Schreie seiner Schwester. Oder die Druckwelle der Explosion, die alle im Keller hochhebt und gegen die Tür schleudert.
Gießen im Fokus der Alliierten
Es sind die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs. Die Alliierten fliegen immer wieder Luftangriffe auf Nazi-Deutschland. Gegen Jahresende gerät dabei auch Gießen stärker in den Fokus - vor allem der Bahnhof, an dem zum Beispiel die Lazarettzüge auf dem Weg durchs Land Halt machen. Die Bombardierung am Nikolausabend 1944 wird als die schwerste in die Gießener Geschichte eingehen und das Stadtbild der Universitätsstadt nachhaltig verändern.
"Hake" oder zu Deutsch: "Hecht" - so ist der Codename für die Mission, zu der die britischen Lancaster-Bomber am 6. Dezember abheben. Später werden diese Flugzeuge von den Deutschen den Namen "Todesflotte" bekommen.
Erlebte angsteinflößende und surreale Szenen in der Bombennacht: Horst Hilgardt.
Etwa 250 von ihnen werfen über Gießen ihre tödliche Fracht ab: Spreng- und Brandbomben, weit mehr als 1.000 Tonnen. Gegen 19.30 Uhr schallt der erste Alarm durch Gießen, viele der Anwohner flüchten sofort in Keller und Luftschutzbunker.
Der eigentliche Luftangriff dauert nur gut eine halbe Stunde. Zwischen 20.03 Uhr und 20.35 Uhr ergießt sich ein Bombenhagel über Gießen. Hauptziele sind der Stadtkern und die Bahngleise bei Klein-Linden.
Eines der Geschosse schlägt auch an dem Haus ein, in dessen Keller Horst Hilgardt sitzt. Er erinnert sich: "Es hat einen Schlag getan, und dann ist das Kellerfenster rausgeflogen. Und wenn man dann auf die Straße rausgesehen hat, dann hat man nichts gesehen außer Feuer. Gelb-rötliches Feuer."
Altstadt und Stadtkern völlig zerstört
Durch die Brandbomben entsteht in der Gießener Innenstadt ein Feuersturm. Die vorher beinahe mittelalterliche Altstadt und der Stadtkern werden fast vollständig zerstört. Die Flammen fressen das Fachwerk, Löschversuche scheitern. Am Ende liegen fast 70 Prozent des gesamten Gießener Stadtgebiets in Schutt und Asche - die Vororte Wieseck und Klein-Linden mit eingerechnet.
Das völlig zerstörte Zentrum von Gießen im Jahr 1944.
Durch den Luftangriff kommen in Gießen schätzungsweise 390 Menschen ums Leben. Allein 100 Todesopfer gibt es, als der Luftschutzkeller der ehemaligen Gummiwarenfabrik Poppe & Co getroffen wird. Dass das Gewölbe im Leihgesterner Weg nicht so sicher ist, wie es sein sollte, ist bekannt, hat sich aber noch nicht bei allen Gießenern herumgesprochen. Manche haben dort vergebens Zuflucht gesucht.
Tote liegen auf der Straße
Ursel Perl ist damals 14 Jahre alt. An das "Drama der Gummiwarenfabrik", wie sie es nennt, denkt sie bis heute manchmal. "Viele sind an geplatzten Lungen gestorben", erzählt die 94-Jährige: "Die saßen artig nebeneinander auf ihren Bänken, als würden sie leben. Manche waren auch ganz geschrumpft."
Später sieht Ursel Perl die Toten auf der Straße liegen, darunter sind Bekannte und Nachbarn. "Das Klagen und Weinen, das war so dominierend, dass ich freiwillig nach Hause bin. Das traumatisiert einen", sagt sie heute, 80 Jahre später.
Viele Menschen verlassen Gießen nach dem Luftangriff am 6. Dezember 1944. Ursel Perls Mutter verbietet ihrer Tochter, nochmal in die Stadt zu gehen: wegen möglicher Blindgänger, aber auch, weil vielerorts Einsturzgefahr besteht.
"Es sind Brandmauern herunter gekracht und haben Menschen erschlagen, die einfach mal schauen wollten", erinnert sich Perl. Doch sicher ist die Jugendliche auch in ihrem Zuhause im Südviertel nicht. Am 11. Dezember folgt der nächste Luftangriff auf Gießen.
"Das Klagen und Weinen traumatisiert einen", sagt Ursel Perl.
Dieses Mal ist es die US-amerikanische Luftwaffe. Und dieses Mal trifft es auch die Klinik und die Universität. "Die Trümmer haben uns noch lange begleitet", sagt Perl heute: "Bis fast zu meinem Abitur musste ich an der Engel-Apotheke über einen Trümmerhaufen klettern."
Später muss ihre Familie im stark beschädigten Haus diejenigen aufnehmen, die im Bombenhagel alles Hab und Gut verloren haben. Es sind harte Zeiten, doch Ursel Perl bleibt in Gießen. Hier erlebt sie mit, wie im März 1945 die Amerikaner einmarschieren und wie kurz darauf der Zweite Weltkrieg in Deutschland zu Ende geht.
Bomben läuten Ende der Nazi-Herrschaft ein
Horst Hilgardt bekommt von alledem nur aus der Ferne etwas mit. Noch in der Bombennacht vom 6. Dezember 1944 hat ihn sein Vater aus Gießen herausgeschafft. Er kommt bei Bekannten auf dem Land unter, im Dorf Geiss-Nidda. Mehr als zwei Jahre lang sieht er seine Heimatstadt nicht wieder.
Dennoch ist Horst Hilgardt heute beinahe dankbar für das, was vor genau 80 Jahren in Gießen passiert ist, wie er sagt. Denn so groß Zerstörung und Leid auch gewesen seien, die Bombenangriffe hätten das Ende der Nazi-Herrschaft in Gießen eingeläutet.
Gießen verliert an diesem Nikolaustag 1944 einen Großteil seiner historischen Bausubstanz, zerstört wird auch die Stadtkirche.
"Es ist so ähnlich wie bei meinem geliebten Fußball: Wenn der Schiedsrichter pfeift, bleibt der Ball liegen. Hätte er nicht gepfiffen, wäre der Ball ganz woanders hingelaufen", sagt Hilgardt: "Vielleicht wäre ich bei der SS gelandet wie mein Vater. Vielleicht hätte ich auch Menschen töten müssen." Der 89-Jährige hält inne. "Ich weiß es nicht. Da bin ich eigentlich froh und glücklich, dass das nicht der Fall war. Ich habe nie ein Gewehr in die Hand genommen und werde auch kein Gewehr in die Hand nehmen."
Auch eine Zeitzeugin wird zu Gast sein. Um 20.03 Uhr - zum Zeitpunkt des Beginns der Bombardierung - werden die Kirchenglocken im Stadtgebiet läuten. Anschließend wollen Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher (SPD) und Stadtverordnetenvorsteher Joachim Grußdorf (Grüne) am Gedenkstein vor dem Stadtkirchenturm einen Kranz ablegen.