Oppositionelle auf der Flucht "Wie kann ich aus Russland abhauen?"
Die Lage von Menschenrechtsaktivisten in Russland ist dramatisch. Wer sich gegen den Krieg ausspricht, riskiert verhaftet zu werden. Viele wollen ihr Land verlassen. Der Weg nach Deutschland ist jedoch steinig.
"Viel Zeit habe ich nicht für das Gespräch", sagt Dina Musina am Telefon, "ich bin auf dem Weg zur Ausländerbehörde". Die Menschenrechtsaktivistin aus Moskau lebt seit Mitte März in Berlin. Die 29-Jährige ist mit dem Zug aus Russland geflohen. Aus Angst vor Repressalien oder einer Verhaftung. Sie arbeitet für das "Komitee für Zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit", eine der bekanntesten russischen Menschenrechtsorganisationen, und hat dort zuletzt vor allem Geflüchteten aus Belarus geholfen. Jetzt allerdings ist auch sie eine Geflüchtete.
Die Lage der Menschenrechtsaktivisten in Russland ist dramatisch. Wer sich gegen den Krieg ausspricht, riskiert verfolgt und verhaftet zu werden. Im Menschenrechtsausschuss des Bundestags geht man davon aus, dass allein in den vergangenen Tagen rund 15.000 Menschen festgenommen wurden, weil sie gegen den Krieg protestiert haben.
Unter ihnen war auch die Chefin von Dina Musina. "Die Nationalgarde hat kurz vor meiner Flucht unsere Büroräume durchsucht und der Geheimdienst hat unseren Server mitgenommen. Wenig später haben sie dann unsere Vorsitzende an ihrem 80. Geburtstag festgenommen, weil sie angeblich an einer Demonstration gegen den Krieg teilgenommen hat." Die Nationalgarde in Russland ist direkt dem Innenministerium unterstellt. Sie gilt als eines der zentralen Machtinstrumente des Kremls.
Dina Musina arbeitet für eine der bekanntesten russischen Menschenrechtsorganisationen.
Hilfe bei der Visabeschaffung
Der Potsdamer Christian Theuerl hat seit Tagen viel zu tun. Der Verein, für den er arbeitet, unterstützt russische Menschenrechtsaktivisten, die das Land verlassen wollen. Er hilft bei der Visabeschaffung, bei der Suche nach einer Wohnung in Deutschland und bei Behördengängen. Zehn Aktivisten konnte er bereits bei der Ausreise helfen, berichtet er. Zahlreiche weitere würden gern folgen.
"Die Chatgruppe 'Wie kann ich aus Russland abhauen?' hat mehr als 200.000 Mitglieder. Gerade ist es allerdings sehr schwierig, Visa und langfristige Aufenthaltstitel bei der Deutschen Botschaft in Moskau zu bekommen." Theuerl wünscht sich deshalb einen direkten Kontakt zu den deutschen Konsulaten in Russland, um schneller helfen zu können.
Das nächste Problem sei der Status von Geflüchteten wie Dina Musina, so der Potsdamer. Viele kämen mit einem Touristenvisum und müssten eigentlich nach 90 Tagen Deutschland wieder verlassen. "Die Ausländerbehörden legen die Rechtslage so aus, dass ein Kurzzeitvisum nicht in einen langfristigen Aufenthaltstitel umgewandelt werden kann, nicht einmal, wenn die notwendigen Beschäftigungsverträge und ein ausreichendes Einkommen vorliegen."
Status ungeklärt
Theuerl wünscht sich für die russischen Menschenrechtsaktivisten eine ähnliche Regelung, wie sie für Geflüchtete aus der Ukraine gilt. Ein schnelles und unbürokratisches Bleiberecht für drei Jahre inklusive einer Arbeitsgenehmigung. Doch das ist derzeit nicht in Sicht.
Der Menschenrechtsbeauftragte der CDU/CSU im Bundestag, Stefan Brandt, beispielsweise berichtet von der Angst der baltischen Staaten vor der Einschleusung von russischen Agenten und Provokateuren: "Wir können also nicht einfach so, wie etwa derzeit aus guten Gründen bei den Ukrainern, Tür und Tor öffnen. Wir müssen sorgfältig kontrollieren."
Seine Kollegen von den Grünen aus dem Menschenrechtsausschuss sehen Deutschland in der moralischen Pflicht, sich für Geflüchtete wie Dina Musina stark zu machen. Sie fordern Erleichterungen bei der Visavergabe aus humanitären Gründen. Boris Mijatovic beispielsweise plädiert für eine Visaregelung, wie sie im vergangenen Jahr für politisch Verfolgte aus Belarus eingesetzt wurde.
FDP-Obmann Peter Heidt verweist zudem auf die Möglichkeit, in Deutschland Asyl zu beantragen. "Die Menschen, die sich trotz dieser Konsequenzen trauen, sich offen gegen Putin zu stellen, verdienen unsere Aufmerksamkeit und unseren möglichst unbürokratischen Schutz in Form schneller Asylverfahren. Dies sollte in meinen Augen auch für russische Deserteure gelten."
Die Angst vor russischen Agenten, die sich als Menschenrechtsaktivisten ausgeben könnten, hält Dina Musina für eine Ausrede. Deutschland kenne die Akteure auf russischer Seite sehr genau aufgrund der jahrelangen Zusammenarbeit. Die russische Menschenrechtsaktivistin wünscht sich, dass die Bundesregierung ihr und ihren Kolleginnen und Kollegen, die auch noch flüchten wollen, schnell und unbürokratisch hilft. "Ich möchte legal in Deutschland leben und hier kein Asyl beantragen. Ich möchte nämlich irgendwann wieder zurück nach Russland und auch dort Flüchtlingen helfen." Mitte Juni läuft ihr Visum aus.