Mehrere Personen stehen in der Gemüseabteilung der Tafel Coburg an.

Bericht zu sozialer Ungleichheit Armut macht unsichtbar

Stand: 27.01.2025 10:19 Uhr

Zuhause bleiben, weil fürs Café das Geld nicht reicht - auch das ist Armut. 17,7 Millionen Menschen sind von sozialer Ausgrenzung bedroht. Was muss sich ändern? Im Bericht der Armutskonferenz kommen Betroffene zu Wort.

Von Nigjar Marduchaeva, WDR

Soziale Ungleichheit ist ein Problem für Deutschland, warnt die Nationale Armutskonferenz (nak) in ihrem aktuellen Bericht. "Ohne Sozialpolitik, die Armut entschieden überwinden möchte, wäre die Demokratie jederzeit in Gefahr", heißt es in der Einführung des "Schattenberichts: Armut in Deutschland", der heute unter der Schirmherrschaft der Diakonie Deutschland veröffentlicht wurde. Er wird in regelmäßigen Abständen als unabhängiges Pendant zum Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung verfasst, erstmals 2012.   

"Wir versuchen, die Sichtweise und das Erleben von Menschen mit Armutserfahrung in den Mittelpunkt zu rücken", sagt Michael David, der als Armuts-Experte bei der Diakonie Deutschland an dem Bericht mitgewirkt hat. Menschen mit geringem Einkommen seien oft wirtschaftlich und sozial abgehängt und würden in vielen Prozessen nicht gesehen. "Sie wohnen in Gegenden, wo Politiker auf Wahlkreistour selten vorbeikommen, sind nicht im Gespräch und können sich schlecht organisieren." Dadurch komme es zu einer geringen politischen Beteiligung, was wiederum schädlich für die Demokratie sei, sagt David.

Wer gilt als arm?

Nach EU-Ratsbeschluss von 1984, gelten Personen als von Armut betroffen, "wenn sie über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist".

Hier geht es um relative Armut, erklärt David, bei der es Menschen verwehrt bleibt, am sozialen oder auch politischen Leben teilzuhaben. "Wenn sich ein politischer Ortsverein in einer Kneipe trifft, wo alle ihr Bier bezahlen müssen, kann die Person da nicht hingehen, weil sie die Rechnung nicht bezahlen kann."  

Die relative Armut betrifft nach EU-Definition alle, die unter 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens zum Leben haben. In Deutschland ist es nach aktueller Statistik für 2023 jede siebte Person, also etwa 14 Prozent der Bevölkerung. Für Alleinstehende lag der Grenzwert 2023 bei 1.310 Euro im Monat, für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2.751 Euro. 

In absoluter Armut, also existenzieller Not, leben in Deutschland etwa sieben Prozent der Menschen. 

"Armut ist nicht gleich Arbeitslosigkeit"

Auf 51 Seiten zeigt der Bericht auf: Armut ist komplex. "Im öffentlichen Diskurs erleben wir leider sehr oft, dass Armut gleichgesetzt wird mit Arbeitslosigkeit, und Arbeitslosigkeit wiederum mit vermeintlicher Faulheit", sagt Diakonie-Armutsexperte David.

Nicht berücksichtigt würden diejenigen, die arbeiten gehen und trotzdem arm sind. Laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit beziehen etwa 900.000 Menschen Bürgergeld (SGB II) bei gleichzeitiger Erwerbstätigkeit.

Aber in Armut geraten auch Menschen, die sich gesellschaftlich engagieren oder Familienmitglieder pflegen. So wie Rentnerin Gisela Breuhaus, die seit 2014 bei der Nationalen Armutskonferenz aktiv ist. Die gelernte Industriekauffrau und zweifache Mutter hat sich jahrelang erst um ihren Vater gekümmert, dann um ihren kranken Ex-Ehemann. Breuhaus selbst ist auf staatliche Sozialleistungen angewiesen.

Diakonie: Sozialsystem muss verbessert werden

Mit dem deutschen Sozialsystem kennt sich die 75-Jährige gut aus und besteht auf ihre Rechte. "Das kann aber nicht jeder, das ist das Gemeine: Viele Menschen werden grundsätzlich bei allen Leistungen nicht aufgeklärt", sagt Breuhaus.  

Viele würden die eigenen Leistungsansprüche aus Unwissen nicht wahrnehmen. Manche hätten Schamgefühle, würden ungern als bedürftig auffallen. Andere wiederum seien abgeschreckt vor der komplizierten Bürokratie.

Für Michael David funktioniert das Sozialsystem in Deutschland grundsätzlich gut, die Existenzsicherung sei verlässlich. "Das Problem ist, bei dieser positiven Nachricht hören politische Entscheidungsträger auf, weiter nachzudenken", kritisiert der Soziologe. Fern der Lebensrealitäten gäbe es etwa keine Angebote für spezifische Betroffenengruppen, alles würde sehr kleinteilig, ergo umständlich ausgerechnet.

Zudem sei Deutschland nicht auf Krisensituationen eingestellt, Corona und die Energiekrise hätten das in den vergangenen Jahren deutlich gezeigt.

Soziale Beteiligung als Schlüssel zur Demokratie

Kurz vor der Bundestagswahl appelliert David vor allem an die Politik: Die soziale Beteiligung von Menschen, die in Armut leben, sei ein ganz wesentlicher Hebel, um gegen Extremismus vorzugehen.  

"Wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die das Gefühl haben, es ist eigentlich total egal, was sie machen, sie kriegen immer eins auf den Deckel, kann das dazu führen, dass sie sagen, mir ist auch die Demokratie egal."

Betroffene haben konkrete Vorschläge

Menschen mit Armutserfahrung sind dem Bericht zufolge in demokratischen Mitwirkungs- und Entscheidungsprozessen unterrepräsentiert. Im Bericht kommen Betroffene selbst zu Wort - und stellen ihre Vorschläge vor, wie sich das in Zukunft ändern könnte.

Es geht unter anderem um das Thema Wohnen. So fordern die Betroffenen mehr soziale und gemeinnützige Wohnungen. Und es geht um soziale Infrastruktur. Wer Geld bekomme, um schwimmen zu lernen, könne das nicht ohne ein Schwimmbad in erreichbarer Nähe. Ein Gutschein für die Musikschule sei ohne freie Plätze in der Musikschule nichts wert.

Auch bei der Gesundheitsversorgung sehen die Betroffenen Nachholbedarf. Die Gesundheitsförderung und Prävention in Deutschland orientiere sich zu stark an der Mittelschicht, es gebe zu wenige Versorgungsangebote in sozialen Brennpunkten und Wohnquartieren. In Schulen müssten regulär Impfscreeninguntersuchungen eingeführt werden, in Verbindung Informationsveranstaltungen für die Eltern. Das sei eine originäre Aufgabe des öffentlichen Gesundheitsdienstes.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete SWR RP in der Sendung "Zur Sache Rheinland-Pfalz" am 23. Januar 2025 um 20:15 Uhr.