30 Jahre nach Brandanschlag in Solingen Eine interaktive Reise gegen das Vergessen
Am 29. Mai 1993 werden fünf Menschen in Solingen bei einem rassistischen Anschlag getötet. Das Schauspielhaus Düsseldorf erinnert nun mit einer interaktiven Busreise durch die Stadt an das Verbrechen.
Die Busreise nach Solingen beginnt schrill: Stewardessen in futuristischen Kostümen sammeln die Theaterbesucher ein, die gebannt Platz nehmen. Angeblich erwartet sie in diesem interaktiven Schauspiel eine erlebnisreiche Reise in die 1990er-Jahre: Doch das Ziel ist die bedrückende Vergangenheit von Solingen.
Bassam Ghazi sitzt mit im Bus. Er hat das Theaterstück zum Brandanschlag entwickelt: "Solingen 1993". Es spielt bewusst auf den Straßen von Solingen und nicht in einem Theaterraum. "Wir wollen die Stadt mit dem Gedenken konfrontieren", sagt Ghazi. "Wir haben das damals unter dem Deckel gehalten und viel zu wenig darüber gesprochen."
Interaktive Reise durch Solingen
Die Besucher werden zu Spielorten in Solingen gebracht, an denen kleine Szenen aufgeführt werden oder Originaltexte aus der Zeit vorgetragen werden. Die Besucher arbeiten sich mit ihrem Handy interaktiv durch die Stadt und die Geschichte des Brandanschlags: Zum Beispiel zu einer verwitterten Parkbank. Hier haben die vier Täter getrunken, bevor sie den Brand gelegt haben.
Die Besucher blicken auf ihr Handy, schauen kurze Filme in denen "ganz normale" Deutsche zutiefst rassistische Aussagen machen. Zum Beispiel solche: "Wir wollen versuchen, die deutsche Sprache wieder von Fremdkörpern reinzukriegen."
Danach sollen die Teilnehmer kleine Aufkleber in der Stadt verteilen mit den Namen der fünf Opfer vom 29. Mai 1993.
Anschlag beschäftigt die Stadt bis heute
In dieser Nacht gab es einen Brandanschlag auf das Haus der Solinger Familie Genç. Fünf Menschen starben. Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç. Der Anschlag gilt als einer der folgenschwersten rassistischen Anschläge in der Geschichte der Bundesrepublik und beschäftigt die Stadt bis heute. Vier jugendliche Täter wurden ermittelt. Sie legten den Brand aus Fremdenhass und wurden später zu hohen Haftstrafen verurteilt.
Die theatralische Wanderung schickt die Besucher durch eine Stadt, die noch immer leidet unter den Geschehnissen in dieser einen Nacht 1993.
Regisseur Bassam Ghazi war damals 18 Jahre alt und stellte sich nach dem Brandanschlag zwei Eimer Wasser neben das Bett, erzählt er. Und er kaufte sich einen Baseballschläger. "Ich musste damals irgendwas tun, und wir müssen heute als Gesellschaft in diese toten Winkel unserer Vergangenheit blicken." Er sei überzeugt, dass es noch weitere Anschläge geben wird: "Umso wichtiger ist der Gedanke: Was bedeutet dieses Leid für Betroffene?"
Mahnmal wird erweitert
Die Stadt Solingen wird zum 30-jährigen Gedenken das Mahnmal in der Stadt erweitern, um auch dadurch Mevlüde Genç zu ehren. Mevlüde Genç hat in der Nacht zwei Kinder, zwei Enkelkinder und eine Nichte verloren. Von heute auf morgen wurde ihr Leben, das sie mit ihrem Mann in Solingen aufgebaut hatte, zerstört. Statt mit Hass reagierte sie mit Besonnenheit, setzte sich für Versöhnung ein. Dafür erhielt sie später das Bundesverdienstkreuz sowie den Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen. Sie galt vielen über Jahre als Stimme des Friedens. Im Alter von 79 Jahren ist sie vergangenes Jahr gestorben.
"Mevlüde-Genç-Platz"
Ein zentraler Platz in Solingen wird jetzt zum "Mevlüde-Genç-Platz". Viele Menschen in Solingen erlebten den Gewaltausbruch vor 30 Jahren in der eigenen Stadt als Schock. Für die Familie, die in Solingen lebt, ist der Anschlag bis heute eine furchtbare Tragödie, an deren Folgen sie leidet. Das Haus der Familie Genç in Solingen ist inzwischen abgerissen. Ein Gedenkstein erinnert an die Opfer. Auf einer kreisrunden Platte steht der Satz: "An dieser Stelle starben als Opfer eines rassistischen Brandanschlags." Darunter stehen die Namen der fünf Menschen, die gestorben sind.
"Meinen Eltern geht es nicht gut"
Unter den Opfern sind zwei Schwestern, die Cihan Genç nicht kennenlernen konnte. Cihan ist ein Jahr nach dem Anschlag auf die Welt gekommen. Seine Eltern Kamil und Hatice haben bei dem Brand zwei Töchter verloren.
Das heißt, Cihan hatte zwei Schwestern, mit denen er nie spielen konnte. "Meinen Eltern geht es nicht gut. Das ist tagesabhängig. Viele Schmerzen, viel Leiden, eigentlich geht es ihnen sehr schlecht. Sie können nicht schlafen und das jeden Tag", sagt Cihan.
Deswegen sei es wichtig, dass man weiß, dass das Leid der Überlebenden auch noch viel weiter geht als in dieser Nacht vom 29. Mai. "Es ist nicht irgendein Türke gestorben, es sind Menschen gestorben, und der Hass muss aufhören", sagt Cihan Genç. Er wünscht sich, dass die Gesellschaft aus Solingen lernt, dass die Menschen besser miteinander kommunizieren. "Die Leute sollen sich ausreden lassen und den Hass irgendwie mal zu Seite legen und dann fragen: Hey, wie geht es dir? Was machst du so?"
Gegen das Vergessen und den Rassismus
Ein anderer Enkel, Can Genç, ergänzt: "Es ist wichtig, dass Jugendliche und die neuen Generationen von Solingen und der Gewalt wissen: 'Wir müssen etwas gegen Rassismus tun in unserer Gesellschaft, auch heute noch.'“ Damit man das nie vergisst und sich immer erinnert. Jeden Tag, jede Woche.
Bei der interaktiven Theaterführung gelangen die Besucher am Ende zu dem Haus der Familie Genç. Sie halten Bilderahmen mit einer durchsichtigen Folien in die Luft, darauf das brennende Haus - das so wieder sichtbar sind. Ein Theaterbesuch, der zum intensiven Gedenken wird. Das Grauen und der Hass von damals werden so auch heute noch sehr spürbar.