Ukrainische Kriegsverletzte Der lange Weg zur Heilung
Minen, Granaten, Projektile - die Verletzungen von ukrainischen Soldaten und Zivilisten sind oft komplex, die Behandlungen schwierig. Auch Deutschland hilft. Bis zur Genesung ist es aber oft ein langer Weg.
Seit Monaten liegt Jewgeni im Bundeswehrkrankenhaus in Hamburg. Ihm fehlen 15 Zentimeter Knochen in seinem Schienbein, seit im Frühjahr neben ihm eine russische Mörsergranate einschlug. Jetzt versuchen die Ärztinnen und Ärzte, das Bein des 48-Jährigen aus Kiew zu retten.
Mit Beginn des russischen Angriffskriegs hatte sich der Vater zweier Söhne freiwillig als Soldat gemeldet. In den ersten Tagen verteidigten er und seine Einheit aus Freiwilligen den strategisch wichtigen Kiewer Flughafen Schuljany. Nachdem sich die russischen Angreifer aus der Gegend um die Hauptstadt zurückgezogen hatten, wurde seine Einheit in die Nähe von Charkiw im Osten der Ukraine verlegt.
Verletzung durch das Fragment einer Granate
Dort kämpfte Jewgeni in einer Mörsereinheit. In einem Dorf wurde seine Einheit angegriffen. Sie verteidigten sich, erzählt der 48-Jährige. Einige der russischen Soldaten hätten sie getötet, doch dann sei ihnen die Munition ausgegangen.
"Ich habe meinen Kameraden noch zugerufen: Geht in Deckung", erinnert er sich. "Aber für mich war es zu spät." Neben ihm schlug eine Granate ein. Ein Fragment bohrte sich in seinen Unterschenkel und zertrümmerte seinen Schienbeinknochen. Seine Kameraden versorgten ihn und retteten ihm wahrscheinlich sein Leben. "Die Granate hätte mich auch töten können", sagt der Ukrainer "Der Krieg ist wie ein Glücksspiel."
Seit Monaten liegt Jewgeni im Bundeswehrkrankenhaus in Hamburg. Dass er überlebt hat, ist Glück.
Keine Evakuierungsflüge aus der Ukraine
Wie Jewgeni sind im vergangenen Jahr etwa 1600 Verletzte aus der Ukraine in die Europäische Union gebracht worden - Zivilisten und Soldaten. Mehr als 600 von ihnen kamen nach Deutschland. Das Bundesamt für Katastrophenschutz koordiniert im Bundesgebiet die Verteilung der Verwundeten als Beitrag eines Nothilfeprogramms der EU. Ukrainische Krankenhäuser können darüber hinaus für spezifische Patienten um Unterstützung bitten.
Gibt es in Krankenhäusern innerhalb der EU freie Kapazitäten, werden die Patienten ins polnische Rzeszów gebracht und von dort in Sammeltransporten ausgeflogen. Wegen der Gefahr durch russische Raketen gibt es keine direkten Flüge aus der Ukraine.
Patienten wie der Soldat Jewgeni haben deshalb eine lange Reise hinter sich. Der 48-Jährige kam erst in ein Lazarett in Charkiw, dann in ein Krankenhaus in Poltawa in der Zentralukraine. Von dort ging es mit dem Auto fast 900 Kilometer in den Westen des Landes und erst dann über die polnische Grenze zum Flughafen Rzeszów.
Verteilung auf viele Krankenhäuser
Anfangs wurden die Patiententransporte nach Deutschland noch von der Luftwaffe organisiert, mittlerweile kommt für die EU-weiten Flüge eine Spezialmaschine aus Norwegen zum Einsatz. In der Boeing 737 werden die Verwundeten liegend transportiert und können während des Flugs medizinisch versorgt werden. Das ärztliche Personal stellen die norwegischen Streitkräfte.
Anlaufpunkt für Sammeltransporte nach Norddeutschland ist der Flughafen Hamburg. Dort organisiert Einsatzleiter Martin Karminski von der Feuerwehr Hamburg die Ankunft und Weiterverteilung der Verwundeten. Sie werden von Rettungsdiensten in Krankenhäuser gebracht - zum Beispiel nach Schwerin, Kiel oder Hannover.
Wie viele Verwundete pro Flug ankämen, sei unterschiedlich, sagt Karminski. Bei einem der ersten Flüge im Frühjahr seien es mehr als 30 gewesen, bei einer Ankunft im November acht. Insgesamt gab es im vergangenen Jahr acht medizinische Flüge in die Hansestadt.
Behandlung im Krankenhaus ist erst der Anfang
Wenn die Patienten in Deutschland ankommen, haben sie oft schon eine mehrwöchige Behandlung in der Ukraine hinter sich und sind weitestgehend stabil. So war es auch bei Oksana, die Ende März im Osten der Ukraine schwer verwundet wurde und im Mai nach Hamburg kam.
Die Kinderkrankenschwester trat in ihrer Heimatstadt Lyssytschansk auf dem Heimweg von einer Schule, in der Hilfsgüter ausgegeben wurden, auf eine Mine. "Ich bin mit dem Gesicht auf den Boden gefallen und konnte nicht atmen", erzählt die 24-Jährige. "Ich habe meine Beine nicht gespürt. Es hat sich angefühlt, als ob sie in einem Loch wären." Oksana verlor beide Beine und vier Finger an der linken Hand.
In Deutschland bekommt sie ihre ersten Prothesen und lernt, mit den Verletzungen ihren Alltag zu bewältigen. In den Monaten nach einer Amputation verändert sich der Beinstumpf fortwährend, Wasser lagert sich ein und die Muskeln bilden sich zurück. Deshalb müssen die Prothesen häufig gewechselt und angepasst werden.
Laufen lernen: Oksanas Mann unterstützt sie beim Üben.
Noch Monate bis zum ersten Schritt
Auch Jewgeni wird Geduld brauchen, seine Behandlung im Bundeswehrkrankenhaus in Hamburg ist langwierig. Zwischenzeitlich wurde der 48-Jährige sogar entlassen. Ein multiresistenter Keim hatte sich in der Wunde ausgebreitet. Bis der abgeklungen war, konnte nicht operiert werden. Eine schwierige Zeit für Jewgeni. Damals habe er gedacht, wenn der Granatsplitter größer gewesen wäre, hätte man sein Bein einfach amputieren können. "Und dann hätte ich vielleicht direkt mit einer Prothese herumlaufen können", erzählt er.
Doch nach langem Warten, klang der Keim ab. Im Februar - nach mehr als einem halben Jahr - kann er operiert werden. Die Ärzte setzen am gesunden Teil seines Knochens ein Implantat ein, das dafür sorgen soll, dass der Schienbeinknochen nachwächst. Das braucht seine Zeit. Nur einen Millimeter am Tag wächst der Knochen. Bis Jewgeni die ersten Schritte macht, wird es noch viele Monate dauern.
Zum Thema sendet der NDR am Montag, 13.02.2023, ab 22 Uhr eine 45-minütige Dokumentation mit dem Titel "Schwer verwundet: Ukrainische Kriegsopfer in deutschen Kliniken". Der Beitrag ist bereits jetzt in der ARD-Mediathek verfügbar.