Wirecard-Skandal Neue Zweifel an Prüfung von EY
Wirecard stand nach Informationen von BR Recherche schon im Frühjahr 2019 kurz davor, aufzufliegen. Die Wirtschaftsprüfer von EY segneten die Bilanz trotz vieler Ungereimtheiten dennoch ab.
Wirecard steht im Frühjahr 2019 mit dem Rücken zur Wand: Nach Medienberichten über Scheinumsätze in Asien bricht der Aktienkurs dramatisch ein. Ende April steht die Vorlage der Bilanz für das Geschäftsjahr 2018 an. Die langjährigen Wirecard-Bilanzprüfer von EY haben im Vorfeld eine Präsentation für den Aufsichtsrat erstellt. Sie liegt BR Recherche vor.
Darin erläutert EY: Umsätze von mehreren Wirecard-Tochterfirmen in Asien seien "nicht existent". Es geht um zehn Millionen Euro, die laut EY ausgebucht wurden. Ebenfalls in dieser Präsentation festgehalten: Wirecard hat elf Millionen Euro Umsatz neu in die Bilanz aufgenommen. Diese stammen aus angeblichen Softwareverkäufen einer in Dubai sitzenden Wirecard-Tochter. Doch auch diese Umsätze haben nach BR-Recherchen nicht existiert.
Aufgedeckt, aber nicht in der Bilanz
Die Vorwürfe im Zusammenhang mit den ausgebuchten Scheingeschäften in Asien wiegen schwer: Schon 2018 hatte Wirecard die Anwaltskanzlei Rajah &Tann in Singapur beauftragt, die Scheingeschäfte zu untersuchen. Anlass waren Hinweise eines Whistleblowers an die Konzernzentrale. Im April 2019 ist der Abschlussbericht der Kanzlei fertig. Ergebnis: Bei den vorgetäuschten Geschäften handelte es sich um Bilanzmanipulation, Urkundenfälschung und Betrug.
Auch EY kannte diesen Bericht. Diesen Hintergrund hätten die Wirtschaftsprüfer im Testat nicht verschweigen dürfen, meint Hansrudi Lenz, Professor für Wirtschaftsprüfung an der Universität Würzburg: "Wenn ich bewusst Verträge manipuliere und nicht existente Verträge quasi aufsetze, dann ist das für mich eine bewusste Manipulation der Rechnungslegung und kein einfaches Versehen."
Neu erfundene Umsätze kompensieren Scheingeschäfte
Im Geschäftsbericht 2018 stellt Wirecard den Sachverhalt anders dar: Dort ist nur die Rede davon, dass Umsätze in Höhe von zehn Millionen Euro "zunächst in den falschen Geschäftseinheiten des Konzerns" erfasst wurden. "Nach Korrektur wurde das gesamte Software-Geschäft in der richtigen Geschäftseinheit des Konzerns erfasst." Also lediglich ein Buchungsfehler.
Tatsächlich hat der Aschheimer Zahlungsdienstleister die ausgebuchten Umsätze in der Bilanz aber mit den angeblich neuen Software-Geschäften ausgeglichen. Aber wo kommen diese neuen Umsätze her? Im Zentrum steht die Wirecard-Tochter Cardsystems Middle East in Dubai. Sie soll 2017 Software für Zahlungsabwicklungen an zwei Firmen verkauft haben. Für elf Millionen Euro. Die werden im April 2019 erstmals verbucht.
Die undurchsichtige Rolle von Chan Chee P.
Käufer der Software sind angeblich eine Firma namens Synergistics, ebenfalls in Dubai ansässig, und ein Reiseanbieter auf den Malediven namens "LetsGoMaldives". Die Wirtschaftsprüfer fordern von Wirecard, diese neu aufgetauchten Umsätze zu belegen.
Doch bei der Prüfung der vorgelegten Unterlagen fallen EY offenbar zahlreiche Ungereimtheiten nicht auf. So sind die Software-Deals der Cardsystems mit Synergistics und LetsGoMaldives nach Darstellung von Wirecard bereits 2017 über die Bühne gegangen. Eingefädelt habe sie ein malaysischer Geschäftsmann namens Chan Chee P. - ausgerechnet, denn dieser Mann war schon an den ausgebuchten Scheingeschäften in Asien beteiligt.
Nach Ansicht des Bilanz-Experten Professor Hansrudi Lenz hätte EY spätestens jetzt Konsequenzen ziehen müsse: "Wenn jetzt dieser Vermittler sozusagen aus der einen Tür rausgeht und durch die andere Tür wieder reinkommt und an andere Unternehmen Umsätze vermittelt, die vorher nicht stattgefunden haben, dann muss man das natürlich zum Anlass nehmen, dem genau nachzugehen."
Dann hätte EY auffallen müssen, dass im Frühjahr 2019 kein Beleg über angebliche Provisionszahlungen vorlag. Denn Chan Chee P. hat erst am 22. Juli 2019 eine Rechnung über eine Million Euro für die Vermittlung des neuen Software-Deals gestellt.
Von angeblichem Software-Vermittler "nie gehört"
Der Geschäftsführer des Reiseportals LetsGoMaldives, einer der angeblichen Software-Käufer, will kein Interview geben. Am Telefon sagt er, von dem Vermittler Chan Chee P. und seinen Firmen habe er noch nie etwas gehört. Einen Vertrag über die Software-Lieferung der Wirecard-Tochter Cardsystems gebe es nicht.
Der Chef des zweiten angeblichen Software-Käufers Synergistics, Tarek M., löscht sein Internet-Profil auf dem Karriere-Netzwerk LinkedIn sofort, nachdem BR Recherche ihm einen Fragenkatalog zukommen lässt. Auf SMS reagiert er nicht. Angeblich treffen ihn die Prüfer von EY im Frühjahr 2019 in Dubai. Dabei bemerken sie offenbar nicht: Tarek M. arbeitet bei der dortigen Polizei, damals im Bereich Geldwäschebekämpfung.
Zehn Millionen Euro für ehemaligen libyschen Geheimdienstchef
Bemerkenswert ist ein weiterer Vorgang: Die Wirecard-Tochter Cardsystems war ursprünglich gar nicht in Besitz einer Software. Die kauft sie laut den von BR Recherche ausgewerteten Unterlagen angeblich im August 2017 von einer Firma namens PMFG. Die soll ebenfalls in Dubai sitzen. Registriert ist die Firma dort aber nicht. Zudem stellt die PMFG der Cardsystems erst fast zwei Jahre später, während der laufenden Wirtschaftsprüfung 2019, eine Rechnung über zehn Millionen Euro. Der Wirecard-Vorstand gibt den Betrag sofort zur Überweisung frei.
Die Summe wird allerdings auf das Konto der "Aegean Danismanlik", also an eine andere Firma, überwiesen. Die sitzt in Istanbul. Dem Handelsregister zufolge ist Rami El-Obeidi als Gesellschafter eingetragen. Der ist ein Vertrauter von Jan Marsalek. Eine einfache Internet-Recherche hätte schon im Frühjahr 2019 ergeben, dass es sich dabei um einen früheren libyschen Geheimdienstchef handelt. EY hat das nicht bemängelt.
EY erklärt auf eine detaillierte BR-Anfrage allgemein, die Prüfer hätten "umfangreiche Prüfungshandlungen durchgeführt und die Prüfung an die zum jeweiligen Zeitpunkt bekannt gewesene Informationslage angepasst".
Weitere Software-Scheingeschäfte
Nach BR-Recherchen hätte noch eine Reihe weiterer Software-Verkäufe EY stutzig machen müssen. Denn: Die Wirecard-Tochter Cardsystems will die angebliche Software für Zahlungsdienstleistungen an neun weitere Firmen verkauft haben, für insgesamt fast 40 Millionen Euro. Dabei erwarben einige Kunden die Software, bevor Cardsystems sie selbst gekauft hatte. Auch das geht aus Unterlagen hervor. EY ist das offenbar nicht aufgefallen.
Marsalek und der saudische Staatsfonds
Einer dieser Software-Deals sticht besonders ins Auge. Er zeigt, wie Ex-Vorstand Jan Marsalek vorgegangen ist, um die Scheingeschäfte zu belegen. Es geht um ein angeblich gemeinsames Vorhaben mit dem saudischen Staatsfonds. Der Name des Projekts: "Fineom". Im März 2019 erstellt Wirecard dafür eine Präsentation und wirbt damit, sogar in Kontakt mit dem früheren Siemens-CEO Klaus Kleinfeld zu stehen. Kleinfeld hat 2017 und 2018 als Berater für den saudischen Königshof gearbeitet.
Das Projekt versandet aber schnell. Eine Rechnung über 3,4 Millionen Euro für eine Software, die Wirecard angeblich geliefert hat, wird nie bezahlt. EY erhebt deswegen zwar Einwände, dennoch bleibt der Umsatz in der Bilanz. Am Ende bekommt Wirecard von EY im April 2019 ein uneingeschränktes Testat.
Hätten Anleger besser geschützt werden können?
Für den FDP-Politiker Florian Toncar, der im Wirecard-Untersuchungsausschuss saß, steht fest: Hätte Wirecard die Scheingeschäfte schon im April 2019 zugeben müssen, "dann wäre es mit dem Unternehmen sehr viel schneller zu einem Ende gekommen. Und auch die Aktionäre, auch die Banken wären sehr viel weniger geschädigt worden als das am Ende leider doch passiert ist."
Das Vorgehen EYs bei der Prüfung der verdächtigen Softwaregeschäfte könnte für zehntausende Anleger relevant sein. Bisher sind sie vor Gericht mit Schadenersatzklagen gescheitert - unter anderem, weil Richterinnen und Richter davon ausgehen, dass EY kein Fehlverhalten nachzuweisen sei.