Gewalt in Kitas Wenn kleine Kinder Zeugen sind
Es ist schwierig, seelische oder körperliche Gewalt in Kitas aufzuklären: Vorwürfe melden Träger und Personal nicht immer. Die Aufsicht ist teils überlastet und agiert uneinheitlich. Und auch Ermittler stoßen an Grenzen, wie BR-Recherchen belegen.
Die Kinderkrippe Rassobande in Grafrath - eine halbe Autostunde von München entfernt - wird 2019 zum Verdachtsfall für die Ermittlungsbehörden. Die damalige Leiterin Martina S. (Name von der Redaktion geändert) soll Kinder unter anderem zum Essen gezwungen, beschimpft, kalt abgeduscht und geschlagen haben.
Nach BR-Recherchen berichten sieben Kleinkinder zu Hause von Schlägen, auch der Sohn von Corinna Bürk. Er kommt dieses Jahr in die Schule. Bis heute geht Corinna Bürks Sohn nicht allein auf einen Kindergeburtstag, hat Probleme, Vertrauen aufzubauen, erzählt sie. "Ich kann damit definitiv nicht abschließen. Eine Entschuldigung wäre mir jetzt schon egal. Darauf warte ich nicht mehr. Aber ein Stück weit Gerechtigkeit."
Andere Kinder, so erzählen es ihre Eltern, haben lange Probleme zu duschen, ducken sich, wenn jemand die Stimme erhebt und halten dabei schützend die Hände über den Kopf. Ein Junge verweigert bis heute jeden Kontakt mit Frauen, die Martina S. ähneln.
Verfahren eingestellt: Aus Mangel an Beweisen
Im Juni 2021 stellt die Staatsanwaltschaft München II die Ermittlungen ein. Damit gilt für Martina S. weiterhin die Unschuldsvermutung. In den Einstellungsbescheiden werden folgende Gründe genannt: Die Eltern seien Zeugen vom Hörensagen, die Kinder noch nicht auskunftsfähig und objektive Beweise wie etwa Kameraaufzeichnungen gebe es nicht.
Vom Träger der Kinderkrippe, FortSchritt, heißt es auf Anfrage, es stehe Aussage gegen Aussage. Mit Konflikten gehe man inzwischen anders um und habe Vertrauensstellen geschaffen, an die Mitarbeitende sich wenden könnten. Laut Träger ist die Krippenleiterin seit Mitte Oktober 2019 nicht mehr für FortSchritt tätig.
Der BR recherchiert zu weiteren Fällen, bei denen der Verdacht von Gewalt gegen Kleinkinder im Raum steht, unter anderem in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Bayern. Auch hier tun sich die Ermittlungsbehörden schwer. Ermittler und Ermittlungsrichter, die sich nur anonym äußern wollen, erklären, dass in der Praxis erst Zeugenaussagen von Kindern ab fünf oder sechs Jahren zählen. Vorher, so sagen sie, müsse ein Erwachsener sein Schweigen brechen, damit ein Fall gerichtsfest wird. Krippenkinder sind in der Regel ein bis drei Jahre alt.
Kleinkinder als Zeugen?
Eine gesetzliche Altersgrenze, ab wann ein Mensch in der Lage ist auszusagen, gibt es nicht. In der Forschung liegt der Grenzwert grob bei vier Jahren, erklärt Anett Tamm, Rechtspsychologin an der Psychologischen Hochschule in Berlin. Vorschulkinder sollten möglichst rasch und idealerweise nur einmal befragt werden. Es gehe darum, das Geschehene nur aus der Erinnerung des Kindes abzubilden.
Vierjährige oder jüngere Kinder, betont die Aussagepsychologin, sind noch täuschungsunfähig: "Wenn Kinder in diesem Alter spontan, ohne dass es von außen jeglichen Einfluss gibt, Angaben machen zu Erlebnissen, die nicht sein sollten, dann muss man das sehr, sehr ernst nehmen."
Krippenkinder von Grafrath nie befragt
Mindestens eine Familie im Fall Grafrath hatte von sich aus die Befragung ihrer Kinder durch geschulte Experten erlaubt. Das ist nicht passiert. Auf Anfrage heißt es von der Staatsanwaltschaft München II, rechtlich stünden der Anhörung von Krippenkindern keine Hindernisse entgegen. Ein Sprecher teilt mit, man habe sich in diesem Fall dagegen entschieden.
Ermittlungsbehörden würden unter anderem nach folgenden Kriterien entscheiden: Wie lange liegt der Vorfall zurück, sind Kinder womöglich beeinflusst worden, belastet die Aussage die Kinder und welche Bedeutung könnte eine solche Aussage haben?
Kinderhilfswerk sieht Gerechtigkeitslücke
Wenn man Kinder nicht befrage, warnt die Juristin Linda Zaiane-Kuhlmann vom Deutschen Kinderhilfswerk, behandele man sie anders als Erwachsene, nur, weil sie Kinder seien. Und das sei ungerecht. Zudem nehme man Kindern die Chance, dass ein Verfahren mögliches Unrecht aufkläre: "Grundsätzlich muss man sagen, dass die Aussagen der Eltern als Zeugen vom Hörensagen in Kombination mit Kinderaussagen, sehr wohl zu einem hinreichenden Tatverdacht und zu einer Anklage führen kann, zumal es sich ja in diesem Fall um mehrere Kinder handelte." Neben den Strafverfolgungsbehörden sieht die Juristin aber auch die Kita-Aufsichten in den Jugendämtern in der Pflicht.
Das für den Fall Grafrath zuständige Jugendamt Fürstenfeldbruck ist nach ersten Beschwerden im Sommer 2019 nicht tätig geworden. Erst im November waren Behördenmitarbeiter in der Kinderkrippe.
Kita-Aufsichten teils überlastet
BR-Recherche hat eine Umfrage unter den 103 Kita-Aufsichtsbehörden in Bayern durchgeführt, 77 nahmen teil. Das Ergebnis: 37 Behörden geben an, sie könnten ihre Aufgaben nicht komplett erfüllen. Acht Kita-Aufsichten verfügen nach eigenen Angaben nur über bis zu zehn Stunden pro Woche. Hinzu kommen unbesetzte Stellen und ein stetig wachsender Aufgabenbereich, schreiben viele dem BR.
Die Angaben in der Umfrage zeigen auch, wie unterschiedlich Kita-Aufsichten im Freistaat arbeiten: Besteht wie in Grafrath der Verdacht, dass Kita-Personal Kindern gegenüber übergriffig oder sogar gewalttätig geworden ist, befragen 30 von 77 Teilnehmern der Umfrage Eltern und Erzieherinnen. Zehn weitere befragen entweder Personal oder Erziehungsberechtigte oder nur sich meldende Personen. Einige Kita-Aufsichten schreiben dem BR, sie seien keine Ermittlungsbehörde.
Das bayerische Sozialministerium hat die Rechtsaufsicht und verweist auf Anfrage auf die kommunale Selbstverwaltung: Die Aufsichtsbehörden seien selbst für ihre Arbeitsorganisation zuständig. Das Ministerium könne keine Vorgaben machen.
Das sieht die Juristin Linda Zaiane-Kuhlmann vom Deutschen Kinderhilfswerk anders: Sie fordert vom Freistaat, die Kita-Aufsichten mit ausreichend Ressourcen auszustatten. Behörden müssten zudem Sachverhalte selbst überprüfen. Dass die Aufsichtsbehörden derart unterschiedlich arbeiten, ist für die Kinderrechtlerin nicht hinnehmbar: "Zusammenfassend kann man von einem Flickenteppich sprechen. Es kann nicht sein, dass die Umsetzung des Kindeswohls vom Zufall abhängt beziehungsweise vom Wohnort eines Kindes."
Staatsanwaltschaft will weitere Zeugen vernehmen
Recherchen des BR belegen mehrere Ermittlungslücken: Eine Erzieherin erschien zu einer Zeugenaussage, aber der Vernehmungsbeamte war krank und der Termin wurde nicht nachgeholt. Die Ermittler befragten insgesamt vier Mitarbeiterinnen der Kinderkrippe, aber kein Personal, das regelmäßig mit Martina S. zusammenarbeitete. Auch weitere Eltern wurden nicht befragt.
Nach Anfrage des BR will die Staatsanwaltschaft München II sich doch wieder mit dem Fall Grafrath beschäftigen und nun noch weitere Zeugen vernehmen.