"Colonia Dignidad" Sektenopfer schicken Brandbrief an Maas
Seit Jahren warten Opfer der "Colonia Dignidad" auf Entschädigung. Jetzt haben sie Außenminister Maas einen Brandbrief geschickt: Deutschland soll sich für die Auszahlung der Gelder einsetzen.
Leise spricht Eduardo Salvo über den Missbrauch, der ihm in den 1990er-Jahren widerfahren ist. Damals, mit 13, lebte er vorübergehend in der deutschen Sekte "Colonia Dignidad" im Süden Chiles. "Die sexuellen Übergriffe meiner Kindheit tauchen bis heute in meinen Träumen auf", erzählt Eduardo. Seine Eltern lebten im Umland der Sekte und wähnten ihren Sohn bei den deutschen Siedlern in guten Händen. Schließlich gab sich "Colonia Dignidad" nach außen hin als Mustergut mit Krankenhaus und Schule.
Drinnen jedoch fand sexueller Missbrauch durch den Sektenchef Paul Schäfer statt. Der pädophile Anführer der fromm-christlichen Gemeinde hatte sich mit seiner Anhängerschar 1961 nach Chile abgesetzt, um deutschen Missbrauchs-Ermittlungen zu entgehen. Dort entstand eine Siedlung, die wie ein Gefängnis mit Stacheldraht abgeriegelt war. Dort missbrauchte Schäfer zahlreiche Kinder der Gemeinde.
Zusammen mit seiner Führungsclique unterstützte er zudem in den 1970ern Chiles Diktator Augusto Pinochet und ließ dessen politische Gegner auf dem Sektengelände foltern und ermorden. Nach Ende der Diktatur bestand die "Colonia Dignidad" weiter - auch weil deutsche Diplomaten nichts unternahmen. Die deutsche Botschaft wusste seit den 1960er-Jahren von dem Missbrauch, erstattete aber nie Anzeige und schickte Geflüchtete sogar mehrfach zurück in die Sekte.
So war es möglich, dass Sektenchef Schäfer in den 1990er-Jahren chilenische Kinder wie Eduardo auf das Gelände locken und missbrauchen konnte. Sein Revolver lag dabei stets neben dem Bett, um den Jungen Angst einzuflößen und ihren Widerstand zu brechen. Erst als Opfer es schafften, ihren Eltern von den Misshandlungen zu erzählen, schritt die Polizei ein. Schäfer wurde 2005 schließlich gefasst.
Langjähriger juristischer Streit
Als er über das Unrecht spricht, welches ihm bis heute widerfährt, überschlägt sich Eduardos Stimme: Nach dem Missbrauch verklagte er zusammen mit anderen Opfern die Firmen der Sekte auf Entschädigung. 2013 gab ihnen das Oberste Gericht Chiles Recht. Doch anstelle der fälligen Auszahlungen begann ein juristischer Streit, der bis heute andauert. Die Unternehmen der Sekte weigern sich mit zahlreichen Mitteln, das Urteil des Obersten Gerichts auszuführen. Bei ihnen handelt es sich heute um dieselbe verschachtelte Firmenstruktur, die der Sektenchef Schäfer mit seinem Führungskreis zu Zeiten der Diktatur anlegen ließ.
Der heute 40-jährige Eduardo Salvo kämpft als Missbrauchsopfer für eine Entschädigung.
In der Holding "Villa Baviera" werden Landwirtschafts- und Forstbetriebe auf dem ehemaligen Sektengelände verwaltet. Die Direktoren verfügen über die Ländereien, die mit Hilfe von Zwangsarbeit aufgebaut wurden. Mittlerweile leiten Kinder der ehemaligen Sektenführung diese Unternehmen.
Aus Sicht von Opferanwalt Hernán Fernández sperrten sich diese gegen die Aufarbeitung: "Diese Direktoren verhindern, dass Gerechtigkeit geschieht und Entschädigungen gezahlt werden." Eduardo Salvo glaubt, dass "die alte Sektenführung ihren Kindern die Macht übergeben hat. Deshalb besteht die wirtschaftliche Sektenstruktur bis heute weiter. Mit Punkt und Komma."
Deutschland soll Druck machen
Ende Mai haben die Missbrauchsopfer einen Brandbrief an Außenminister Heiko Maas geschrieben. Dieser liegt der ARD vor. Darin fordern sie, Deutschland müsse sich "bei den Firmen der 'Villa Baviera' sowie bei der chilenischen Regierung dafür einzusetzen, dass die ausstehenden Zahlungen umgehend beglichen werden." Bis dato warten sie auf eine Antwort aus Berlin.
"Dieser Brief an Deutschlands Außenminister ist meine letzte Hoffnung", erklärt Eduardo. Aus seiner Sicht müsse Deutschland helfen, weil es eine Mitschuld trage. "40 Jahre lang wussten die deutschen Diplomaten in Chile vom Missbrauch - und taten nichts. Im Gegenteil: Sie haben sich von der Sekte Leberwurst und Brötchen schicken lassen", klagt der 40-Jährige.
In einem Brief fordern die Sektenopfer Deutschland auf, sich für eine Auszahlung der Entschädigungen einzusetzen.
Pikant ist, dass die Bundesregierung die Sektenfirmen zwischen 2008 und 2012 und auch noch danach finanziell unterstützte. Über das Auswärtige Amt und die GIZ flossen deutsche Steuergelder an die "Villa Baviera", obwohl bis dato keine Entschädigungen gezahlt wurden. Eine Auflösung der undurchsichtigen Firmenstruktur und die Aufteilung des Sektenvermögens auf die Opfer hat die Bundesregierung offenbar zu keinem Zeitpunkt konkret vorangetrieben.
Politik in der Verantwortung?
Die Opferanwälte fordern jetzt radikale Maßnahmen. "Den Firmenchefs muss die Macht entzogen werden. Es braucht eine konkrete Intervention, sodass das Sektenvermögen unter staatlicher Kontrolle steht", sagt Fernández. Auch der Berliner Wissenschaftler Jan Stehle sieht die Politik in Deutschland und Chile in der Verantwortung, für Transparenz zu sorgen: "Es ist nicht verständlich, dass das Vermögen einer kriminellen Organisation heute von einigen wenigen verwaltet werden kann, ohne, dass Einblick genommen werden kann, um welche Vermögenswerte es sich handelt."
Eduardo Salvo hofft auf die Unterstützung und eine klare Haltung seitens der Bundesregierung, die düstere Vergangenheit der "Colonia Dignidad" entschlossen aufzuarbeiten - 24 Jahre nach dem Missbrauch.
Auf Anfragen an Vertreter der "Villa Baviera" gab es keine Antwort. Auch das Auswärtige Amt wollte sich zu der Angelegenheit nicht äußern.