Kampagnen gegen die Ukraine Putins Protest-Touristen
Versuchen russische Agenten, mit gefakten Protesten einen Keil zwischen die Ukraine, die Türkei und Europa zu treiben? Das legen interne Papiere nahe, die aus dem russischen Sicherheitsapparat stammen sollen.
Zwei Männer mit weit ins Gesicht gezogenen Schals wollen offensichtlich nicht erkannt werden. Auf den Fotos, die vor wenigen Wochen in sozialen Netzwerken auftauchten, strecken beide den rechten Arm zum Hitlergruß in die Höhe. An einem Zaun daneben hängt ein Banner mit der ukrainischen Flagge und in englischer Sprache der Spruch: "Erdogan, das Erdbeben ist eine große Rache für die russischen Touristen! Alanya als nächstes!" Alanya ist ein bei russischen Touristen beliebter Urlaubsort in der Türkei.
Die Fotos sollen in Paris gemacht worden sein und angeblich ukrainische Aktivisten zeigen: Am 05. März, gegen 8 Uhr morgens, angeblich am Place Saint-Pierre im 18. Arrondissement. Bei Facebook, Telegram, Youtube und TikTok finden sich zahlreiche Fotos und Videos davon. Andere Aufnahmen zeigen, wie angeblich an anderer Stelle in Paris die Kopie einer türkischen Flagge verbrannt wird. Außerdem gibt es Fotos von Graffitis mit Slogans wie "Stop Erdogan", "Alanya Next" oder "Stop Islam".
In Papieren, die WDR, NDR und "Süddeutsche Zeitung" mit internationalen Medienpartnern auswerten konnten, wird beschrieben, wie eine solche Fake-Aktion ablaufen soll. Die Papiere wurden dem Londoner "Dossier Center" zugespielt, einem vom Kreml-Kritiker Michail Chodorkowski finanzierten Recherchezentrum.
Erdogan provozieren
Die Strategiepapiere sollen aus dem russischen Sicherheitsapparat stammen und in diesem Jahr verfasst worden sein. Darin heißt es, fünf maskierte Menschen sollten an solchen Provokationen teilnehmen, Videoaufnahmen davon an türkische Medien verschicken und in sozialen Netzwerken verbreiten. Auch "zugängliche Städte" werden aufgelistet, in denen solche Aktionen den gewünschten Effekt erzielen könnten: Paris, Den Haag, Brüssel, Frankfurt am Main.
Es wirkt wie das Drehbuch für eine Operation, bei der es augenscheinlich darum geht, Konflikte und Streit innerhalb der NATO zu anzuheizen. Die Vorgehensweise wird in der europäischen Sicherheitscommunity mit großer Sorge beobachtet. Denn tatsächlich sollen derartige von Moskau gesteuerte Fake-Proteste bereits stattgefunden haben. Ziel der vermeintlich anti-türkischen oder anti-muslimischen Proteste durch angebliche Ukrainer ist es offenbar, den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan dazu zu bringen, die Unterstützung für die Ukraine zurückzufahren und den angestrebten NATO-Beitritt Schwedens zu verhindern.
In den Papieren werden konkrete Themen benannt. So sollten angebliche Ukrainer provokative Reaktionen auf das Erdbeben in der Türkei zeigen. Und damit einen "destruktiven Nazi-Charakter" der ukrainischen Gesellschaft unter der Führung von Selenskyj betonen.
Bescheidene Reichweiten
Die Aktion in Paris war am Ende allerdings eine Provokation von überschaubarem Ausmaß. Weder in französischen, noch in anderen europäischen Medien spielte der Auftritt der vermummten Demonstranten eine Rolle. Die über Social-Media-Accounts verbreiteten Fotos und Texte erreichten bescheidene Reichweiten. Der Verfasser des Papiers scheint die Aktion dennoch als Erfolg zu werten. In dem Dokument werden fast stolz die Links zu den Posts aufgelistet.
Westliche Nachrichtendienstler halten das in den Papieren beschriebene Vorgehen Russlands für "absolut plausibel". Zur russischen Desinformationsstrategie gehöre es, bereits vorhandene Konflikte wie zwischen der Türkei und Deutschland oder zwischen der Türkei und Frankreich aufzugreifen. So heißt es in einem der Dokumente mit dem Titel "Projekt >Anti Erdogan<", zwischen der Türkei und den EU-Ländern gebe "zurzeit wesentliche Spannungen".
Provokationen gegen die Türkei
Im Januar hatte in Stockholm der schwedisch-dänische Rechtsextremist Rasmus Paludan unweit der türkischen Botschaft eine Koran-Ausgabe verbrannt und damit Proteste in zahlreichen muslimisch geprägten Ländern ausgelöst. Paludan hatte die Verbrennungsaktion als einen Protest gegen den Islam und die angeblichen Versuche Erdogans erklärt, die Meinungsfreiheit in Schweden zu beeinflussen. Ein Sprecher des türkischen Außenministeriums sprach von einem "abscheulichen Angriff auf unser heiliges Buch" und rief die schwedische Regierung auf, gegen Paludan vorzugehen.
Sicherheitskreise haben keinen Hinweis darauf, dass Russland konkret mit Paludans Aktion zu tun hatte. Aber der russische Geheimdienst scheint die Entwicklung genau beobachtet zu haben. In dem vorliegenden Projektpapier zumindest ist beschrieben, auf welche Weise weitere Spannungen zwischen den Staaten herbeigeführt werden könnten. Es wird vorgeschlagen: Die Fahne der Türkei mit den Füßen zu treten und ein Porträt von Erdogan in den Niederlanden zu verbrennen. Außerdem sollten Graffitis mit Erdogan-Beleidigungen in allen großen europäischen Städten verbreitet werden.
Bezahlung für Proteste
Die Recherchen der internationalen Medien legen nahe, dass von mehreren Aktionen in Europa tatsächlich Spuren nach Russland führen. Danach könnte zum Beispiel ein in Russland lebender Mann, dessen Name den Redaktionen bekannt ist, mit der Organisation von Protesten zu tun haben. Nicht nur teilte er die Berichte über die angebliche Protestaktion in Paris.
Es sieht so aus, als habe er auch im Vorfeld solcher Aktionen, etwa per Facebook, nach Personen gesucht, die gegen Bezahlung teilnehmen. Für eine Koordination im Hintergrund sprechen auch identisch wirkende Schilder, die bei kleineren Protesten in unterschiedlichen Ländern genutzt wurden. Auf Anfrage wies der Mann die Vorwürfe entschieden zurück. Er sprach davon, dass sein Account gehackt worden sei. Kurz nach der Anfrage wurde sein Account dann gelöscht.
Erdogan helfen
Wolfgang Ischinger, ehemaliger Diplomat und Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, sieht durchaus Gründe für Moskau, solche Proteste zu fördern: Mit solch gezielten Provokationen erreiche Putin gleich zwei Ziele. Man könne die Unterstützung für Schwedens NATO-Beitritt erschweren. Gleichzeitig könne der Anschein einer anti-muslimischen Stimmung in Europa die konservativen Kräfte in der Türkei stärken und damit Erdogans Chancen bei der bevorstehenden Wahl steigern.
Wie gezielt Moskau offenbar auf gesteuerte Akteure, bezahlte Demonstranten oder gar Schauspieler setzt, um politische Straßenproteste vorzutäuschen, darauf weisen auch die jüngst bekannt gewordenen Geheimpapiere aus dem US-Verteidigungsapparat hin. In den "Pentagon Leaks" findet sich ein US-Geheimdienstbericht über geplante Protestaktionen Moskaus, um die Republik Moldau zu destabilisieren.
Danach soll die Söldnertruppe Wagner mit einer russischen Sicherheitsfirma geplant haben, Demonstranten auszubilden. Dieses Training der angeblichen Protestler habe, so heißt es in dem US-Geheimpapier, ursprünglich im Februar in der Türkei stattfinden sollen. Der türkische Geheimdienst habe es aber unterbunden.
An dieser Recherche waren neben WDR, NDR und der Süddeutschen Zeitung folgende Medien beteiligt: Dossier Center, Le Monde, Dänischer Rundfunk DR, Expressen, Schwedisches Fernsehen SVT, Norwegischer Rundfunk NRK.