Gerichtsprozess in der Ukraine Russen wegen Schüssen auf Deutschen angeklagt
Ein Mann aus Sachsen wollte seine Frau aus Kiew retten. Dabei wurde er wohl vom russischen Militär beschossen und schwer verletzt. Nun beginnt in der Ukraine ein Prozess gegen russische Soldaten - in Abwesenheit.
Im Krieg, so könnte man meinen, geraten die vielen Verbrechen und Grausamkeiten schnell in Vergessenheit. Zu viele Gefechte, zu viele Raketen, Bomben, zu viele Tote und Verletzte. Und doch gibt es einzelne Taten, die durchaus aufgeklärt werden könnten.
Die Justiz in der Ukraine jedenfalls bemüht sich, soweit möglich, gezielte Angriffe auf Zivilisten schnell zu ahnden. Im ukrainischen Irpin hat nun vor dem Stadtgericht ein Prozess wegen mutmaßlicher russischer Kriegsverbrechen begonnen. Dabei geht es auch um einen Deutschen.
Der Mann aus Sachsen war am ersten Tag nach Beginn des russischen Angriffskrieges mit seinem Auto in Richtung Kiew unterwegs, um seine Frau außer Landes zu bringen. Dabei geriet er offenbar unter gezielten Beschuss und wurde schwer verletzt.
Opfer aus Deutschland soll aussagen
Angeklagt sind fünf russische Militärangehörige - in Abwesenheit, denn die Beschuldigten wurden bislang nicht gefasst. Durch Zeugenaussagen, abgehörte Funksprüche und andere Hinweise aber will die ukrainische Staatsanwaltschaft die Namen der angeklagten Soldaten ermittelt haben. Sie werden beschuldigt, im Frühjahr 2022 Kriegsverbrechen gegen Zivilisten in der Region um den Kiewer Vorort Irpin begangen zu haben.
Nach Informationen von NDR und WDR wird damit erstmals seit Beginn des Krieges ein Fall unter Beteiligung eines deutschen Opfers verhandelt, das auch als Geschädigter aussagen soll: Steve Meiling, 44 Jahre alt, Angestellter bei einem Autohersteller und Feuerwehrmann aus Borna in Sachsen. Er war nahe Irpin in seinem Auto mutmaßlich vom russischen Militär beschossen und dabei schwer verletzt worden.
Vom BKA befragt
NDR und WDR haben mit Meiling gesprochen und in den vergangenen Monaten zu seinem Fall recherchiert. Demnach interessiert sich auch die deutsche Justiz für den Angriff auf den Mann aus Borna. So soll der Generalbundesanwalt derzeit die Einleitung eines Verfahrens wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen prüfen.
Bereits Anfang diesen Jahres wurde Meiling deshalb von Ermittlern des Bundeskriminalamtes (BKA) befragt. Auf Anfrage will sich die Bundesanwaltschaft öffentlich nicht zu den Ermittlungen äußern. Bekannt ist lediglich, dass die Behörde seit dem Frühjahr vergangenen Jahres ein generelles, sogenanntes Strukturermittlungsverfahren wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in der Ukraine führt.
Plötzlich unter Beschuss
Am 24. Februar 2022 hatte Meiling gerade Nachtschicht, als er morgens die Meldung auf sein Handy bekam: Russlands Angriff auf die Ukraine hatte begonnen, erste Raketen schlugen in Kiew ein. Der Feuerwehrmann zögerte nicht lange. Erst wenige Wochen zuvor hatte Meiling eine Ukrainerin geheiratet. Weil ihr ein Sprachzertifikat für eine Aufenthaltsgenehmigung fehlte, durfte seine Frau jedoch nicht in Deutschland bleiben. Nun saß sie mit ihrem Sohn in der ukrainischen Hauptstadt fest.
Ein paar Stunden habe er noch geschlafen, so erzählt es Meiling heute, dann sei er ins Auto gestiegen und losgefahren. Er wollte seine Familie retten, am Ende aber bezahlte er die Reise beinahe mit seinem Leben: Etwa 28 Kilometer vor Kiew, nahe der Stadt Irpin, wurde der deutsche Feuerwehrmann plötzlich beschossen - offenbar von russischen Truppen.
Erst sei ein Geschoss neben seinem Fahrzeug eingeschlagen, dann habe er gespürt, wie er etwas an den Kopf bekommen habe, erinnert sich Meiling. "Dann bin ich mit dem Auto in den Straßengraben, weil mir das ganze Blut über das Gesicht lief". Er habe alles nur noch verschwommen und wie in Zeitlupe wahrgenommen, habe zeitweise gedacht "Hauptsache, es geht schnell zu Ende".
In Sicherheit gebracht
Meiling überlebte schwer verletzt. Von Granatsplittern getroffen rettete er sich in ein nahegelegenes ukrainisches Dorf. Er wurde in ein Krankenhaus in der Ortschaft Borodjanka gebracht. Bald tauchten in Deutschland die ersten Nachrichten von dem angeschossenen Feuerwehrmann aus Sachsen auf, Fotos zeigen ihn mit blutigem Gesicht und Kopfverband im Krankenbett.
Mehrere Wochen musste Meiling noch in der Ukraine bleiben, bevor er nach Deutschland zurückkehren konnte. Auch seine Frau, deren jugendlicher Sohn und weitere Verwandte konnte er schließlich nach Polen in Sicherheit bringen, auch mit Hilfe seiner Feuerwehrkameraden aus Sachsen. Mittlerweile lebt seine Frau Anna bei ihm in Borna. Sie arbeitet in einem Hotel.
Gezeichnet vom Krieg
Meiling findet es gut, dass in der Ukraine nun ein Prozess gegen mutmaßliche Täter beginnt - trotz deren Abwesenheit. International gelten solche Verfahren, bei denen in Abwesenheit der Angeklagten verhandelt wird, als umstritten, auch weil sich die mutmaßlichen Täter nicht selbst vor Ort verteidigen können.
Gerechtigkeit sei für ihn, wenn die Leute, die Kriegsverbrechen begangen hätten, ihre Strafe bekämen - "und dabei geht es ja nicht nur um mich", sagt Meiling. Doch er frage sich zugleich, wie hoch die Überlebenschance der Täter gewesen sei. In seinem Fall wäre es möglich, dass die Soldaten drei oder vier Wochen später schon nicht mehr am Leben gewesen seien.
Der Prozess am Stadtgericht in Irpin könnte ein Jahr andauern. Bei dem Beschuss sollen fünf Zivilisten ums Leben gekommen und sieben verletzt worden sein. Deren Fälle werden in dem Verfahren ebenso verhandelt. Meiling soll dort frühestens in einigen Wochen aussagen. Werden die Täter gefasst und verurteilt, droht ihnen laut ukrainischem Recht eine lebenslängliche Freiheitsstrafe.
Gesundheitlich gehe es ihm heute "ganz gut", so Meiling. Bis auf die Kopfschmerzen. In seinem Körper sind heute noch Splitter, fast 300 sollen es sein, vor allem im Kopf. Regelmäßig muss er sich deshalb im Krankenhaus untersuchen lassen. "Die Narben werden nicht komplett verschwinden", resümiert Meiling, sie werden ihn wohl sein restliches Leben begleiten. Der Krieg bleibt ihm ins Gesicht geschrieben.