Lieferdienst Gorillas Glanz und Elend eines Start-ups
Erst große Visionen, Expansionspläne um die halbe Welt, jetzt bleiben Millionenverluste: Gorillas ist finanziell in der Sackgasse. Interne Informationen geben Einblicke ins Innere des Startups.
Noch vor nicht allzu langer Zeit war der Lieferdienst Gorillas ein Liebling von Medien und Investoren. Ein im Lockdown gegründetes Berliner Start-up, das Einkaufen per App ermöglichte. Im März 2021 wird Gorillas auf einen Wert von eine Milliarde Dollar geschätzt, nie zuvor wurde ein deutsches Start-up so schnell so wertvoll.
"In 20 Jahren werden wir sagen: Wir haben verdammt nochmal das neue Nike gebaut. Wir werden einen Einfluss von vergleichbarem Ausmaß haben", rief Gorillas-Gründer und CEO Kagan Sümer noch im Januar seinen Mitarbeitern bei einem internen Online-Meeting zu. Doch inzwischen steckt der Lieferdienst offenbar in der Krise, die Investorengelder schmelzen, ein Rettungsverkauf an Rivalen steht zur Debatte. Wie konnte es so weit kommen?
Hinweise geben interne Zahlen, die Panorama und der "Süddeutschen Zeitung" (SZ) vorliegen. Beide Medien haben mehr als zwei Dutzend interne Videokonferenzen und Präsentationen ausgewertet, die im Zwei-Wochen-Takt mit den Mitarbeitern der Zentrale stattfinden. Noch im Juli machte Gorillas demnach bei einer Durchschnittbestellung von 27,20 Euro nach Abzügen aller operativen Kosten unterm Strich ein Minus von 5,30 Euro. Dabei sind noch nicht einmal die Zusatzkosten für Verwaltung, Zentrale und Marketing eingerechnet.
Durchschnittliche Bestellung | 27,20 € |
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Einkaufspreis und Mehrwertsteuer | -18,40 € |
Bezahlung Fahrer | -7,50 € |
Weitere Kosten | - 6.60 € |
Summe nach Abzügen | - 5,30 € |
Quelle: : ARD-Panorama auf Basis von Gorillas-Zahlen
Jede Bestellung erhöht also das Minus in der Kasse des Lieferdienstes. Dabei sind die Zahlen schon deutlich besser als noch vor einem Jahr. In einer internen Videokonferenz sagte Sümer seinen Mitarbeitern, dass im September 2021 noch jede Bestellung von 25 Euro ein Minus von ebenfalls ganzen 25 Euro bedeutet habe. Gorillas will sich auf Anfrage "aus Wettbewerbsgründen nicht zu finanziellen Details" äußern.
Jeden Monat zweistellige Millionenbeträge verbrannt
Wie schnell sich die Verluste bei vielen Bestellungen summieren, zeigt die sogenannte "cash burn rate" - damit ist gemeint, wie viel Verlust das Start-up im laufenden Geschäft macht, wie viel Geld sprichwörtlich verbrannt wird. Diese Verluste, die Gorillas-Gründer Sümer im August seinen Mitarbeitern präsentierte, lagen zu Jahresbeginn noch bei 52 Millionen Euro im Monat. Bis Juli sanken sie demnach dank radikaler Sparmaßnahmen zumindest auf rund 25 Millionen.
Es ist immer noch eine beachtliche Zahl, dabei hat Gorillas bereits die Hälfte seiner Mitarbeiter in der Zentrale entlassen, sein Geschäft in ganzen Ländern wie Italien und Belgien dicht gemacht und auch in Deutschland und den Niederlanden nach und nach Warenlager geschlossen, die zu hohe Verluste schreiben. Nicht einberechnet sind einmalige Kosten, die ebenfalls in Millionenhöhe liegen können.
Die ersten Sparmaßnahmen läutete Gorillas bereits im Herbst 2021 auf Druck der Investoren ein. Eigentlich war es der größte Erfolgsmoment in der Geschichte des Start-ups: Sümer war es gelungen, eine Milliarde Dollar Investorengeld einzusammeln. Aber aus dem Board, einem Gremium, über das Investoren Einfluss auf den Kurs des Start-ups nehmen, habe es im Hinblick auf Veränderungen am Zinsmarkt geheißen: Gorillas muss "von 'Lasst uns um jeden Preis wachsen' zu 'Wir müssen auch langsam mal zeigen, dass das mittelfristig profitabel werden kann'" umstellen. So formuliert es einer der Investoren, Philipp Klöckner, im Interview mit Panorama und der SZ. Klöckner selbst wird von einem anderen Investor in dem Gremium vertreten.
Wachstum um jeden Preis
In der Anfangsphase galt bei dem Start-up offenbar die Devise: Wachstum um jeden Preis. Was das bedeutete, zeigt ein Blick auf die Expansionspläne von Gorillas: Der Lieferdienst wollte nicht nur Deutschland und Europa erobern, sondern die halbe Welt - bis nach Australien. Dort sollen den Recherchen zufolge sogar schon Mitarbeiter eingestellt worden sein. Doch letztlich eröffnete Gorillas dort aber nie Warenlager - genauso wenig wie in Polen und einigen US-Städten. Alle diese Pläne wurden im Herbst 2021 auf Eis gelegt.
Gorillas äußert sich dazu schriftlich: "[...] Mit Beginn des dritten Quartals 2021 haben wir unseren strategischen Fokus von Hyperwachstum auf einen klaren Weg zur Profitabilität verlagert. Als Teil dieses Wandels haben wir uns entschieden, unsere Aufmerksamkeit auf unsere Schlüsselmärkte zu richten und unsere Expansionspläne zu pausieren."
Drastische Sparmaßnahmen
Nachdem sich die Lage am Finanzmarkt im Frühjahr mit dem Krieg gegen die Ukraine dramatisch zuspitzte, unternahm Gorillas radikale Schritte: Im Mai 2022 wurden 300 Mitarbeiter der Zentrale entlassen, die Hälfte der Belegschaft dort. Das Geschäft in Italien, hier hatte Gorillas schon zwei Dutzend Warenlager eröffnet, wurde wieder geschlossen, die Lager geräumt. In Spanien reduzierte Gorillas die Zahl der Warenlager, in Belgien verkaufte das Start-up den Großteil der Firma. Auch in Holland und Deutschland schließt Gorillas weiterhin Warenlager, die wenig Chance auf Profitabilität haben, wie zuletzt etwa in Dortmund, Gelsenkirchen, Münster und Bochum.
"Haben uns komplett überschätzt"
Seif El-Sobky wirkte bei Gorillas an den Expansionsplänen mit. Zuletzt war er dort als "Direktor Einkauf" beschäftigt. Im Mai wurde auch er von seinem Posten entlassen, jetzt hat er mit "Seyouf Kitchen" eine Produktion für ägyptisches Streetfood gegründet. Nun ist der gebürtige Ägypter der erste ehemalige Mitarbeiter, der sich offen vor einer Kamera äußert. "Wir haben uns komplett überschätzt", sagt der 33-Jährige heute. "Zu der Zeit dachten wir, dass wir alles tun können, was wir wollen." Die übereilten Expansionspläne seien zu riskant gewesen, da Gorillas noch nicht einmal in einem Land bewiesen habe, dass das Geschäftsmodell funktionieren kann.
Gründer Sümer hält bislang trotz allem an seinen Visionen fest. "Wir haben eine Bewegung geschaffen, nicht nur ein Unternehmen", sagte er noch im Mai seinen Mitarbeitern bei einem Videomeeting. Ob hinter der Vision auch ein funktionierendes Geschäftsmodell steht, ist zweieinhalb Jahre nach der Gründung von Gorillas weiter offen.
Investor Klöckner sagt, die Entwicklung von Gorillas gleiche den typischen Phasen junger Start-ups, nur die Ausmaße seien extremer. Auch im Hinblick auf die Verluste: "Das ist normal und das ist das Erfordernis, wenn man etwas wirklich Großes bauen will. Es gibt ja niemanden, der heute Jeff Bezos oder Mark Zuckerberg vorwirft, dass sie am Anfang Hunderte von Millionen verbrannt haben."