Kindesmissbrauch Ermittler lassen Bilder nicht löschen
Zahlreiche Fotos und Videos, die schweren sexuellen Missbrauch von Kindern zeigen, bleiben oft jahrelang im Netz, obwohl Ermittlungsbehörden sie löschen könnten. Das zeigen Recherchen von NDR und "Spiegel".
Viele Missbrauchsbilder der Pädokriminellen-Plattform "Boystown", die deutsche Behörden im April 2021 abgeschaltet hatten, sind weiterhin online abrufbar. Dies ergaben gemeinsame Recherchen von Panorama, STRG_F und "Spiegel". Zwar hatten die Ermittlerinnen und Ermittler vier Drahtzieher von "Boystown" festgenommen, die Fotos und Videos der Plattform jedoch nicht bei den entsprechenden Speicherdiensten entfernen lassen.
Dies hängt mit der besonderen Online-Architektur von Pädokriminellen-Netzwerken wie "Boystown" zusammen. Zwar nutzen sie zum Betreiben ihrer Plattformen das anonyme Darknet, aber die Datenmengen ihrer Aufnahmen sind zu groß, um dort gespeichert zu werden. Daher wählen die Pädokriminellen stattdessen Speicherdienste im gewöhnlichen Internet, um ihr Material dort verschlüsselt hochzuladen. Im Darknet-Forum teilen sie dann nur einen entsprechenden Download-Link, oft mit Passwortschutz. Die Speicherdienstbetreiber ahnen den Recherchen zufolge meist nichts davon. Würden diese Links zu illegalen Inhalten bei ihnen gemeldet, würden sie diese sehr wahrscheinlich aus dem Netz entfernen.
Im aktuell größten Darknet-Forum, in dem Fotos und Videos von schwerem Kindesmissbrauch geteilt werden, stehen mehr als 20 Terabyte an Bildmaterial zum Download. Das entspricht etwa einem Jahr Video in hochauflösender Qualität. Die Recherchen belegen, dass es sehr einfach wäre, diese Aufnahmen löschen zu lassen. Da Ermittlungsbehörden sich jedoch nicht darum kümmern, können Pädokriminelle solche Fotos und Videos seit Jahren weiterverbreiten.
Täter fassen, Inhalte lassen?
Im Fall "Boystown" liegen die Links den Strafverfolgungsbehörden vor - wurden aber den Speicherdiensten offenbar bis heute nicht gemeldet. Nach den Recherchen von Panorama, STRG_F und "Spiegel" funktionierten die Links auch Monate nach der eigentlichen Abschaltung der Plattform immer noch und wurden zudem von einem User in einem anderen Forum geteilt. Die Fotos und Videos dokumentieren schlimmste Verbrechen an Kindern, etwa die Penetration von Säuglingen oder Gruppenvergewaltigungen von Mädchen und Jungen. Auch das Material sogenannter "Studios", in denen Kinder "professionell" sexuell missbraucht werden, ist so online geblieben.
Auf Nachfrage erläuterte der Leiter der Gruppe "Gewalt- und Sexualdelikte" im BKA, Hans-Joachim Leon, dass es zwar ein "essenzieller Auftrag auch an die Strafverfolgungsbehörden" sei, Missbrauchsdateien aus dem Netz entfernen zu lassen. Gerade bei ihren Ermittlungen im Darknet ließen sie jedoch nicht löschen. "Unsere Ermittlungen sind täterorientiert. Wir versuchen, die User zu bekommen. Wir sammeln keine Links ein", sagte Leon. Er verwies auf die personellen Ressourcen, die das Melden der Inhalte in Anspruch nähme - und die dann anderswo fehlten.
"User zu Tode nerven"
Ein Team von NDR-Journalisten konnte jedoch zeigen, dass schon mit überschaubarem Aufwand in kurzer Zeit riesige Mengen in den Darknet-Foren entfernt werden könnten. Sie testeten die Reaktion der Speicherdienste, die von den Pädokriminellen besonders intensiv für die Lagerung ihres Materials genutzt werden. Im derzeit größten Forum sammelten die Journalisten dafür rund 80.000 Links ein. Ergebnis: Alle Dienste - ob inländisch oder ausländisch - entfernten die Inhalte binnen Stunden oder maximal zwei Tagen.
Den Journalisten gelang es auch, Kontakt zum Administrator des Forums aufzunehmen. Er bestätigte, dass Strafverfolgungsbehörden bisher keine Inhalte, die auf seiner Plattform verlinkt sind, systematisch gemeldet hätten - obwohl dies die User "zu Tode nerven" könnte: Wenn man lang genug lösche, könne es passieren, dass die Leute gehen und die Administratoren "den Laden dichtmachten".
Betroffene werden immer wieder zum Opfer
Erst Mitte November hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) bei der Herbsttagung des BKA darauf hingewiesen, dass die Zahl der Darstellungen sexuellen Missbrauchs stark gestiegen sei, und betont, dass das Bild- oder Videomaterial "auf keinen Fall dauerhaft abrufbar sein" dürfe. Die Betroffenen würden sonst immer wieder zum Opfer, "und zwar ein Leben lang". Die Löschung sei unverzichtbar.
Julia von Weiler von der Kinderschutz-Organisation "Innocence in Danger" fordert die Behörden auf, Missbrauchs-Aufnahmen systematischer entfernen zu lassen: "Wenn diesen Gruppierungen klar wird, dass jemand in ihr Forum eindringen und die Links weitergeben kann, dass Material gelöscht wird, entsteht dort eine massive Verunsicherung." Das sei ein wichtiges Signal, dass dort kein rechtsfreier Raum sei.
Strategiewechsel beim Kampf gegen Darknet-Foren?
Für NRW-Innenminister Herbert Reul, der nach diversen Missbrauchsfällen im Bundesland die Zahl der Ermittler vervierfachen ließ, waren die Erkenntnisse der Recherche neu: "Das ist eine ganz interessante und kluge Strategie, gar keine Frage", sagte der CDU-Politiker im Interview. Er wolle prüfen, ob man künftig stärker löschen lassen könne: "Verbrechen kann man nicht nur mit einem Schlag aufklären, sondern manchmal muss man einfach dranbleiben, nerven, stören, Unruhe verbreiten, es unattraktiv machen, es erschweren."