Sexismus im Fußballstadion Schutzkonzepte teils mangelhaft
Viele Vereine der ersten und zweiten Fußball-Bundesliga haben keine oder nicht funktionierende Anlaufstellen für Betroffene sexualisierter Übergriffe im Stadion. Das zeigen Vollbild-Recherchen. Dabei gibt es Vorgaben der DFL.
Fußball wird von der Deutschen Fußball Liga (DFL) und den Bundesligavereinen als ein Erlebnis für die ganze Familie beworben. Eine Umfrage des Instituts Allensbach ergab, dass mittlerweile 40 Prozent der deutschen Fußballfans Frauen sind. Doch Vollbild-Recherchen zeigen: Viele Frauen haben sexuelle Übergriffe in Stadien erlebt.
"Dann habe ich plötzlich eine Hand an meinem Hintern gespürt", sagt Cosima Müller, 22 Jahre. Im Mai 2022 ist sie mit Freunden im Max-Morlock-Stadion in Nürnberg. Während eines Platzsturmes sei sie von einem Mann an Hintern und Brust angefasst worden. "Und dann weiß ich nicht, sind mir einfach nur die Tränen gekommen und ich war dann sehr überfordert in dem Moment."
Zahlreiche Formen sexueller Übergriffe
Es gibt offenbar noch mehr Fälle wie den von Cosima Müller. Doch bisher liegen keine repräsentativen Studien vor, die sexualisierte Gewalt an Frauen in Stadien und Fanzonen untersucht haben. Eine Vollbild-Umfrage, an der zwischen dem 19. April und dem 7. Mai rund 2.500 Menschen online teilgenommen haben, ergab, dass fast jede vierte Frau mindestens einen sexuellen Übergriff im Stadion erlebt hat. Die bundesweite Umfrage ist nicht repräsentativ.
Der Link zur Umfrage wurde vor Stadien verteilt sowie über reichweitenstarke Social-Media-Kanäle etwa der Sportschau geteilt. Knapp 99 Prozent der Umfrageteilnehmer gaben an, mindestens unregelmäßig ins Stadion zu gehen.
Viele Umfrageteilnehmerinnen schildern ihre Erfahrungen. Das reicht von anzüglichen Kommentaren, über Berichte von sogenannten "Popo-Grabschern", bis hin zu Nachrichten wie diesen: "Ich wurde im Gästeblock im Stadion von Union Berlin angepinkelt". Oder: "Ich habe im Stadion K.o.-Tropfen ins Bier bekommen. Die Anzeige, die ich erstattet habe, wurde eingestellt. Der Verein hat auf meine Mitteilung dazu nie reagiert."
Vorgaben ohne Sanktionen
Die DFL ist der Dachverband der 36 Vereine der ersten und zweiten Bundesliga. Sie gibt in den Lizenzbedingungen seit 2022 unter anderem vor, dass die Clubs einen Nachweis liefern müssen, dass er "seine Mitarbeiter/innen für die Themen Diskriminierung und Gleichberechtigung, Diversität und Inklusion sensibilisiert".
Weisen die Vereine dies nicht nach, bleiben sie jedoch sanktionsfrei. Auf Nachfrage erklärt die DFL, sie wolle den Clubs die Möglichkeit geben, ihre "Strukturen fortlaufend und zukunftsgerichtet auf- und auszubauen".
Tatsächlich unternehmen viele Proficlubs etwas. Initialzündung für die Gründung solcher Anlaufstellen war ein Vorfall in einem Fanzug von Mönchengladbach im Jahr 2018. Eine Frau warf einem betrunkenen Fan vor, er habe sie vergewaltigt. Anschließend kam es zu einem Prozess, in dem der Angeklagte in erster Instanz wegen Vergewaltigung verurteilt, in zweiter Instanz freigesprochen wurde, da ihm die Tat nicht nachgewiesen werden konnte.
Daraufhin riefen einige Bundesligisten sogenannte Anlaufstellen ins Leben. Das sind Stellen in Stadien oder Hilfetelefone, an die sich Betroffene von Diskriminierung und Übergriffen niedrigschwellig und diskret wenden können. Dennoch haben bisher nur 23 von 36 Vereinen in der Saison 2023/24 eine solche Anlaufstelle etabliert.
Auf eine Vollbild-Anfrage antworteten nur sechs der 13 Vereine ohne entsprechende Einrichtung. Sie schrieben, sie arbeiteten an Konzepten oder ergriffen bereits Sicherheitsmaßnahmen.
Defizite bei der Umsetzung
Um herauszufinden, ob die bestehenden Schutzmaßnahmen der Proficlubs funktionieren, testete Vollbild die Anlaufstellen mit Reporterinnen in Fußballstadien stichprobenartig. Die Vereine werben, Betroffene sexualisierter Gewalt könnten sich mit einem Codewort unter anderem an Ordner wenden, um eine diskrete Hilfekette auszulösen. Während das Schutzkonzept des 1. FC Magdeburg einwandfrei funktionierte, gab es bei Hansa Rostock und Hertha BSC Defizite.
Hansa Rostock verspricht auf seiner Webseite, dass Betroffene sich mit dem Codewort "Möwe Emma" an Ordner wenden können. Außerdem heißt es: "Wir bieten dir dann einen sicheren Rückzugsort und helfen dir, diskret und direkt - auch ohne Rückfragen zu stellen."
Dennoch kannte einer der beiden getesteten Ordner das Codewort "Möwe Emma" nicht. Zudem gab es weder einen Rückzugsort, noch einen diskreten Austausch. Hansa Rostock ging auf eine Volldbild-Anfrage von nicht genauer ein, teilte mit: "Die Erreichbarkeit einer weiblichen Kontaktperson muss zwingend gegeben und verbessert werden."
Ordner kannten das Codewort
Bei Hertha BSC heißt das Codewort "Wo ist Lotte?" Doch zwei der vier in der Stichprobe getesteten Ordner kannten das Codewort nicht. Einer der getesteten Ordner fragte die Reporterin stattdessen, ob sie etwas zum Rauchen brauche. Die Verantwortliche von Hertha BSC gab im Interview mit Vollbild-Interview Defizite zu: "Ziel ist, dass irgendwann alle wissen, dass es 'Wo ist Lotte' gibt. Zwei von vier Ordnern ist auf jeden Fall noch verbesserungswürdig."
Cosima Müller möchte trotz dieser Umstände die Leidenschaft am Fußball nicht verlieren. "Ich gehe, seit ich ein Kind bin, ins Stadion. Ich hatte diesen einen Vorfall, der wirklich nicht schön war, aber ich möchte mir davon meine Liebe zu dem Sport nicht nehmen lassen."