Tschetschenen in Deutschland Endlosschleife der Unsicherheit
Wenn es um Tschetschenen geht, dann oft in Zusammenhang mit Clans und Kriminalität. Doch viele leben in Ungewissheit und Angst vor Abschiebung nach Russland, wo Gefängnis und Folter drohen.
"Ich bin kein Wirtschaftsflüchtling, ich bin nicht hierhergekommen, weil mir das Licht oder das Gas abgestellt wurde. Ich hatte Essen, ich hatte eine Wohnung, ich hatte Geld. Das einzige, was ich in Russland nicht hatte, war Sicherheit", sagt Schach Naschajew. Der Tschetschene floh 2016 aus dem Nordkaukasus nach Deutschland. Er stellte einen Asylantrag, wurde abgewiesen. Seine Anwältin Inga Schulz klagt vor dem Verwaltungsgericht Potsdam gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), denn Naschajew habe einen Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling.
In Russland, dessen Staatsbürger er ist, hätte er nur zwei Möglichkeiten, ist er überzeugt: Er müsste für die Sicherheitskräfte des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow arbeiten und seine Landsleute verraten. Weil er das aus Prinzip ablehne, drohe ihm Gefängnis.
Naschajew ist durch eine Kriegsverletzung gezeichnet. Er sei 2002 bei einem Angriff russischer Streitkräfte verwundet worden. Damals tobte der zweite Tschetschenienkrieg, er habe den britischen Journalisten Roddy Scott beschützt. Der Reporter wurde bei dem Angriff getötet, Naschajew mit einem Schuss ins Bein verletzt. Er kam ins Gefängnis. Seine Wunde sei nicht behandelt worden. "Im Gegenteil, sie schlugen mich." Er deutet weitere Misshandlungen an. "Sie haben uns gehasst", sagt er. Die russischen Strafverfolgungsbehörden seien "Banden" unter dem Befehl von Präsident Wladimir Putin und seines Statthalters Kadyrow. In ihm sieht Naschajew einen "Verräter" am eigenen Volk.
"In der Schwebe"
Als er 2015 nach 13 Jahren Gefängnis freikam, sollte er für den Geheimdienst Tschetscheniens arbeiten. Das habe er abgelehnt. Nach seiner Flucht behandelten Ärzte in Potsdam seine alte Wunde. "Ich bin den Deutschen dankbar, vor allem den Ärzten, die mein Bein geheilt haben." Er habe eine Wohnung und ein Auto. Er habe die Fahrschule absolviert, sich zum Schiffselektriker weitergebildet. Doch auch wenn er komfortabel leben könne, sei er nicht froh. "Ich bin seit sechs Jahren in der Schwebe. Ich finde keine Arbeit. Ich habe keine Papiere." Er kommt nicht vor und zurück.
Was er sich wünscht, ist eine klare Ansage: "Wenn sie mir politisches Asyl gewähren, geben sie es mir. Wenn nicht, sagen sie Nein und lassen mich in ein Drittland gehen." Nicht nach Russland, wo er auf mehreren Todeslisten stehe, sondern in ein Land mit Umsiedlungsprogrammen wie Kanada oder Großbritannien, wo ihm die Familie des getöteten Journalisten helfen könne.
Dauer von Asylverfahren gestiegen
In solch ungeklärten Situationen befinden sich viele Tschetschenen in Deutschland, bestätigt Anwältin Schulz. Nach Schätzungen leben in Deutschland 50.000 Tschetschenen. In Berlin und Brandenburg, wo viele nach der Ankunft untergebracht werden, etwa 16.000.
Generell betrug die Dauer behördlicher Asylverfahren nach Angaben der Bundesregierung im Jahr 2020 durchschnittlich 8,3 Monate. Jedoch schließen sich in den meisten Fällen langwierige Gerichtsverfahren an: So wurde 2020 im Schnitt gegen 73 Prozent aller ablehnenden Bescheide geklagt. Die durchschnittliche Dauer bis zu einer endgültigen Entscheidung stieg in den vergangenen Jahren an, im ersten Halbjahr 2020 erreichte sie mehr als zwei Jahre.
Forderung nach Qualitätsoffensive beim BAMF
In einer Antwort auf eine Anfrage der Bundestagsfraktion der Linkspartei begründete die Bundesregierung im Juni die gestiegene Verfahrensdauer mit Corona-Schutzmaßnahmen sowie damit, dass die BAMF-Außenstellen während der Zeit, als weniger Asylsuchende gekommen seien, vorrangig ältere Verfahren abgeschlossen hätten. Das habe die Gesamtverfahrensdauer statistisch steigen lassen.
Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Luise Amtsberg erklärte, eine Verfahrensbeschleunigung sei grundsätzlich wünschenswert. Aber sie dürfe nicht zulasten der Fairness im Asylverfahren oder der Beratung von Schutzsuchenden gehen. "Für gute und zügige Entscheidungen muss eine richtige Qualitätsoffensive im BAMF erfolgen."
14 Monate Auslieferungshaft
Besonders bedrückend ist die Lage für jene, die in Auslieferungshaft auf behördliche und gerichtliche Entscheidungen warten müssen. Ein Beispiel ist der Tschetschene Omar Salukwadse. Er saß 14 Monate in Cottbus in Auslieferungshaft. Jeden Tag hätte ihn die Entscheidung ereilen können, nach Russland ausgeliefert zu werden. Auch ihn würde dort Gefängnis und womöglich Folter erwarten. Russische Ermittlungsbehörden werfen ihm zweifachen Mord und ein Mordkomplott vor. Sie hatten ihn bei Interpol zur Fahndung ausschreiben lassen, weshalb er 2020 in Deutschland festgenommen wurde. Salukwadse weist die Vorwürfe zurück: Sie seien nur ein Vorwand. Er stehe auf Todeslisten, weil er im Tschetschenienkrieg gekämpft und für die Sicherheitsbehörden Georgiens gearbeitet habe.
Im Februar sagte er als Zeuge im Prozess um den Mord am tschetschenisch-stämmigen Georgier Selimchan Changoschwili in Berlin aus. Angeklagt ist ein Russe, der den Mord mit Hilfe staatlicher Stellen in Russland ausgeführt haben soll.
Er, Salukwadse, habe mit Changoschwili beobachtet, wer aus Russland ins georgische Pankisi-Tal gekommen sei und Verdächtiges gemeldet. Changoschwili seit getötet worden, weil er Informationen über russische Agenten in Deutschland gehabt habe. Auf Nachfragen der Richter und Anwälte wollte er aber nicht konkreter werden und sorgte so für Zweifel. Jedoch bestätigte ein Ex-Vizeinnenminister Georgiens, dass beide für das Antiterrorzentrum des Landes tätig waren.
Die Befragung Salukwadses zeigte, dass es neben der Sprachbarriere kulturelle Unterschiede bei der Beschreibung von Ereignissen gibt, so zur Genauigkeit von Zeitangaben. Oft können Betroffene ihre Erlebnisse nicht stringent schildern, weil sie traumatisiert sind. Zudem fehlen ihnen häufig Fotos oder Dokumente als Belege.
Zusagen Russlands "nicht belastbar"
Salukwadse verfügte über Belege. Das Brandenburgische Oberlandesgericht entschied nun, dass seine Auslieferung an Russland unzulässig ist. In der Begründung bezog sich das Gericht auch auf eine Einschätzung des Auswärtigen Amtes von Ende September: Fotos und eine Namensliste deuteten stark darauf hin, dass der Verfolgte Angehöriger einer im Tschetschenienkrieg aktiven Gruppe war. Dies lege die Vermutung nahe, dass ihn in Russland kein faires Strafverfahren erwarte.
Das Auswärtige Amt halte daher die dazu abgegebenen Zusicherungen Russlands für "nicht belastbar". Weil nicht sichergestellt sei, dass das Strafverfahren dort den völkerrechtlichen Mindeststandards entspreche, erweise sich die Auslieferung als unzulässig. Salukwadse wurde daraufhin aus dem Gefängnis entlassen.
"Es ist gut und vor allem höchste Zeit, dass das Auswärtige Amt nun endlich die Situation von tschetschenischen Flüchtlingen richtig einschätzt und erkennt, welche Verfolgung den Menschen in Tschetschenien droht. Angesichts der zahllosen Beispiele für die Missstände in der russischen Justiz kann Russland nicht wie ein normaler Partner betrachtet werden", teilte Grünen-Politikerin Amtsberg dazu mit.
Misshandlungen als "tief verwurzeltes Problem"
Bereits 2019 hatte das Antifolterkomittee des Europarates Russlands Behörden gemahnt, gegen Misshandlungen durch Strafverfolgungsbeamte im Nordkaukasus vorzugehen und bei entsprechenden Vorwürfen zu ermitteln. Folter von Inhaftierten sei ein "tief verwurzeltes Problem". Dies spreche für eine Pflichtverletzung der Behörden Tschetschenens und für ein Versagen der Zentralregierung bei der Aufsicht.
Dass Folter nicht auf Gefängnisse im Nordkaukasus beschränkt ist, zeigen aktuelle Veröffentlichungen der russischen Gefangenenrechtsgruppe gulagu.net, die Videos schwerer Misshandlungen an die Öffentlichkeit brachte. Dabei handele es sich nur um wenige Beispiele aus einem Archiv, das systematische Folter zum Zwecke der Erniedrigung und Erpressung Gefangener belege.
Peter Franck von Amnesty International in Deutschland weist darauf hin, dass seine Organisation in den vergangenen Jahren immer mehr Anfragen von Anwälten zu Auslieferungsersuchen aus Tschetschenien erreicht haben. "Oft handelt es sich bei den angegebenen Vergehen um lang zurückliegende Taten oder auch um minderschwere Delikte." Angeklagte würden in der Regel auch verurteilt, wobei neben politischen Gründen Korruption eine Rolle spiele. "Das Urteil im Fall Salukwadse lässt nun darauf hoffen, dass die Sensibilität für die Verhältnisse im Justizsystem Russlands und besonders im Nordkaukasus zugenommen hat", so Franck.