EU-Sondergipfel Der Marathon-Gipfel hat geliefert
Es ist nicht perfekt, was die Staats- und Regierungschefs da in Brüssel ausgehandelt haben. Aber sie haben bewiesen, dass die EU handlungsfähig ist, und gezeigt, welchen Wert die Gemeinschaft hat.
Es stimmt: Perfekt ist das, was da in vier langen Brüsseler Tagen und Nächten und unter beachtlichen Mühen aller Beteiligten ausgehandelt wurde, nicht. Und die Art und Weise, wie der Deal zustande kam, wird noch für manche Diskussionen sorgen. Aber wer von der Politik, zumal der europäischen, Perfektion erwartet, der ist entweder naiv oder ein Scharlatan. Denjenigen, die dieses beispiellose 1,8 Billionen Euro schwere Finanzpaket nun schlecht zu reden versuchen, die reflexartig auf das übliche Brüsseler "Gewürge und Gezerre" schimpfen und mit noch mehr Eifer den nahen und endgültigen Untergang der Europäischen Union beschwören, sei gesagt: Ihr liegt verkehrt!
Was nach Abwägung aller Argumente zählt, ist - um die Kanzlerin zu zitieren -, dass sich die 27 am Ende zusammengerauft haben. Obwohl die Verhandlungen nach Aussagen von Insidern mehrmals auf Messers Schneide standen, obwohl die Nerven des Öfteren blank lagen und die vor allem aufs heimische Publikum abzielenden Show-Einlagen und Erpressungsversuche der Selbstdarsteller Rutte, Kurz und Orban die Geduld ihrer Kollegen arg strapazierten - ist man eben nicht auseinandergegangen, sondern hat durchgehalten und weiter nach einer Lösung gesucht. Zu verdanken ist das nicht zuletzt auch dem energischen Einsatz des deutsch-französischen Duos Merkel-Macron, das spät, aber nicht zu spät zueinander und damit zu seiner europäischen Berufung fand.
EU hat sich handlungsfähig gezeigt
Trotz all der Streitereien und des peinlichen Feilschens um Rabatte: Der Marathongipfel hat geliefert, die EU hat sich handlungsfähig gezeigt. Nicht nur hat man sich einvernehmlich auf ein 750 Milliarden Euro umfassendes Wiederaufbau-Programm für Corona-geschädigte Mitgliedsländer wie Italien oder Spanien verständigt, sondern auch auf einen Sieben-Jahres-Haushalt von nochmal rund 1,1 Billionen Euro, der die Gemeinschaft für die anderen gewaltigen Herausforderungen der Zeit wappnen soll: den Klimawandel etwa, die Digitalisierung, die nach wie vor ungelöste Flüchtlingsfrage und die immer bedrohlicher werdende Konfrontation der rivalisierenden Supermächte China und USA.
Eine Tasse Kaffee pro EU-Bürger pro Tag
Und man hat sich - trotz des Theaterdonners der selbsternannten Sparrebellen - von alten Tabus getrennt: Zum ersten Mal seit ihrer Gründung nimmt die EU gemeinsam Schulden auf, um den am stärksten von der Krise betroffenen Mitgliedern solidarisch beizustehen. Dazu wird es bald Steuern geben, die direkt nach Brüssel fließen, ohne Umweg über die nationalen Haushalte.
Das alles in der nüchternen Erkenntnis, dass keiner der 27 die anstehenden Probleme allein bewältigen kann, und dass alle vom europäischen Binnenmarkt mehr profitieren, als sie an Beiträgen in die Gemeinschaftskasse einzahlen. Umgerechnet übrigens gerade mal den Gegenwert von einer Tasse Kaffee pro EU-Bürger am Tag. Besser lässt sich wohl kaum demonstrieren, was Europa bei all seinen Schwächen wert ist.
Das Wesen des Kompromisses
Dass die Einigung vier statt - wie ursprünglich geplant - zwei Tage gedauert hat, dass Merkel und Macron ihren im Mai präsentierten großzügigen Corona-Rettungsplan nur mit schmerzhaften Zugeständnissen an die vier bis fünf Blockierer aus dem Club der "Frugalen" durchbringen konnten und dass die eine oder andere Million, die für eine moderne und zukunftsorientierte EU eigentlich gut angelegt gewesen wäre, dem Rotstift zum Opfer gefallen ist - geschenkt.
Genau darin besteht ja das Wesen des Kompromisses: Dass jeder von seiner Position Abstriche macht und auf den anderen zugeht, damit am Ende alle mit dem Beschlossenen leben können.
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