EU-Gipfel in Brüssel Der schöne Schein
Der EU-Gipfel in Brüssel war eine nahezu perfekte Inszenierung. Doch das Theater konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Union in Kernfragen heillos zerstritten ist. Vor allem das Feilschen um die Brexit-Beute birgt eine enorme Sprengkraft.
Es ist der EU-Gipfel des schönen Scheins: EU-Ratspräsident Donald Tusk zitiert den Träumer John Lennon, imaginiert ein Großbritannien ohne Brexit und schwärmt davon, dass die EU nicht mehr als Problem gilt, sondern als Lösung.
Um die schöne neue Harmonie unter Beweis zu stellen, gibt es keine lange EU-Nacht mit zermürbenden Diskussionen, sondern noch vor Mitternacht einstimmige Entscheidungen im Minutentakt: Verlängerung der Russland-Sanktionen, ein neuer europäischer Verteidigungsfond, ständige EU-Kampftruppen und nicht zuletzt ein einträchtig herbeigeschriebener Kriterienkatalog für die die Vergabe der Brexit-Beute - also die Neuansiedlung der bisher noch in London befindlichen Agenturen für Arzneimittelsicherheit und Bankenaufsicht.
Kleinkariertes Feilschen statt Harmonie
Als Inszenierung war das Brüsseler Harmonietheater perfekt. Doch mit der EU-Wirklichkeit hatte dieses Gipfelspektakel nichts zu tun. Auch der französische Präsident Emmanuel Macron kann die de facto heillos zerstrittene EU nicht in einen Club der solidarischen Problemlösung verwandeln. Denn sobald es konkret wird, ist es aus mit dem schönen Schein der neuen EU-Harmonie. Dann dominieren gleich wieder kleinkariertes Feilschen und nationales Schrebergartendenken. Zum Beispiel bei der Frage, wer sie denn nun tatsächlich bekommt, die prestigeträchtigen Agenturen zur Arzneimittelkontrolle und Bankenaufsicht.
Über einen abstrakten Kriterienkatalog kann man sich schnell einigen. Und über ein Punktevergabesystem à la Eurovision Song Contest auch. Doch mit der Harmonie dürfte es spätestens dann vorbei sein, wenn es im Herbst konkret wird. Dann muss die EU sich entscheiden, wo die Bankenaufsicht künftig angesiedelt wird: Frankfurt? Warschau? Wien? Oder vielleicht doch Luxemburg? Um die Arzneimittelagentur kämpfen gar 17 EU-Staaten. Wenn es um das Erbe geht, werden Blutsverwandte zu Todfeinden. Und für eine Wahl-Verwandtschaft wie die EU hat das Brexit-Erbe erst recht beachtliche Sprengkraft.
Macron sorgt für Affront
Wie zerbrechlich diese Wahl-Verwandtschaft namens EU ist, zeigte ausgerechnet ihr Möchtegern-Reformer Macron, als er die osteuropäischen Staaten wegen ihrer angeblichen Supermarktmentalität angriff: Geld aus Brüssel? Ja, bitte. Flüchtlinge aus muslimischen Staaten? Nein, danke. Wütend keiften die Angegriffenen zurück. Der Neuling Macron sei ahnungslos und sein erster Auftritt gleich ein Ausfall. Da wurde sie einen Moment lang sichtbar - die authentische EU: In den Kernfragen heillos zerstritten und ohne ein wirkliches Konzept für die Zukunft. Aber für einen Gipfel des schönen Scheins reicht es noch immer.
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