Friedensnobelpreis 2022 Unauflöslich verbunden
Mit den diesjährigen Friedensnobelpreis-Trägern setzt das Komitee ein starkes Zeichen gegen den post-sowjetischen Imperialismus des Kremls: Denn die Friedens- und Freiheitsschicksale der drei Völker sind unauflöslich miteinander verbunden.
"Es lebe Belarus!" - "Ruhm gebührt der Ukraine!" - "Russland wird frei sein!". Nicht zufällig rufen die Teilnehmer von Protesten in den drei Staaten diese Slogans oft gemeinsam: Dahinter steckt nicht nur ein Zeichen der gegenseitigen Solidarität, sondern das Bewusstsein, dass die Bevölkerungen dieser Länder im Kampf um bürgerliche Freiheiten und Menschenrechte unauflöslich verbunden sind.
Dass das Friedensnobelpreis-Komitee in diesem Jahr den Preis nicht an einen, sondern drei wichtige Akteure vergibt, trägt dieser Verbundenheit Rechnung - und setzt ein wichtiges Zeichen gegen den post-sowjetischen Imperialismus des Kremls.
Denn ihr Leid führen die, die in Belarus, Russland und Ukraine gegen Unterdrückung kämpfen, auf einen gemeinsamen Gegner zurück: Kremlchef Wladimir Putin. Der will mit der Unterdrückung jeglichen Widerspruchs und seinem geschichtsrevisionistischen Imperialismus eine Art Sowjetunion des 21. Jahrhunderts wiedererrichten. Weite Teile der Bevölkerung in den drei Staaten wollen eine totalitäre Verbundenheit von Moskaus Gnaden, die auf Abhängigkeit vom Kreml beruht, nicht mehr mittragen - und wehren sich gemeinsam.
Belarus' Kampf um Freiheit
Als nach den massiven Wahlfälschungen von 2020 und mehr als zweieinhalb Jahrzehnten totalitärer Herrschaft von Alexander Lukaschenko massenhaft Belarusinnen und Belarusen zu Protesten auf die Straßen gingen, ließ dieser seinen Sicherheitsapparat mit aller Brutalität gegen die eigene Bevölkerung losschlagen. Oppositionelle Leitfiguren wie Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa sitzen bis heute in Haft oder wurden ins Exil gedrängt, Tierschutzorganisationen und Schriftstellerclubs wurden aufgelöst, Journalisten und Anwälte an der Arbeit gehindert. Preisträger Ales Bjaljazki sitzt am Tag seiner Ehrung im Gefängnis.
Um sich an der Macht zu halten, stellte sich Lukaschenko in den Dienst Putins - und gab die Souveränität seines Staats nahezu auf. Im Ergebnis wurden massenhaft russische Soldaten und Militärgerät nach Belarus gebracht und nutzen die dortige Infrastruktur, um seit Februar aus die Ukraine anzugreifen.
In der Ukraine hatten viele belarusische Oppositionelle Zuflucht vor dem Regime gefunden, nun sind sie im Krieg erneut heimatlos geworden. Etliche haben sich unter weiß-rot-weißer Flagge als Freiwillige den Kämpfern in der Ukraine angeschlossen, während Lukaschenko droht, er behalte sich einen Mobilisierung und damit auch einen offiziellen Kriegseintritt vor - entsprechend groß ist in der Bevölkerung die Sorge, dass in der Ukraine bald Belarusen auf Belarusen schießen müssen.
Ukraines Kampf um das Bestehen
Für die Ukraine steht ihr Bestehen als souveränes Land auf ganz andere Weise auf dem Spiel: Immer wieder spricht der Kreml den Ukrainern ihre Eigenständigkeit als Staat und Volk ab, will sie am liebsten militärisch ausradieren, wie staatliche Propagandasender in Russland es unaufhörlich wiederholen. Um dieses vermessene Ziel zu erreichen, bombardiert er auch die Zivilbevölkerung und setzt die Gefahr einer Nuklearexplosion als Druckmittel ein.
Doch während Ukrainerinnen und Ukrainer sich - unter anderem dank der Unterstützung schlagkräftiger Freunde im Westen - seit Monaten gegen den russischen Angriff wehren, ist in Russland offener Widerstand kaum noch möglich: Seit vielen Jahren hat der Kreml im eigenen Land unabhängigen Nachrichtenmedien nach und nach den Stecker gezogen, jegliche politische Opposition und zahlreiche zivilgesellschaftliche Vereinigungen verfolgt.
Auch das erbitterte Vorgehen gegen die Friedensnobelpreisträger-Organisation Memorial, deren jahrzehntelange Arbeit sein Geschichtsbild widerlegt, ist ein Sinnbild seines Wunsches: jeglichen Widerspruch und die Orientierung an historischen Tatsachen statt politischen Doktrinen unmöglich zu machen.
Echte Verbundenheit statt Zwang
Dass Russlands Zivilbevölkerung sich nicht anders zu helfen weiß als durch massenhafte Flucht aus dem Land - "solange es eben noch geht", wie viele sagen -, zeugt davon, wie weit dort die erlernte Hilflosigkeit fortgeschritten ist. Kraft finden die, die sich Putins Allmachtsanspruchs noch erwehren können und wollen, in der Unterstützung von Hilfsorganisationen für die Ukraine und Belarus - und setzen so ein Zeichen ihrer geistigen und moralischen Unabhängigkeit.
Heute, an Putins 70. Geburtstag, gilt der Applaus und die Freude vieler Russinnen und Russen nicht dem Kremlchef, sondern Ales Bjaljazki und der von ihm mitgegründeten Organisation "Wjasna", Memorial und dem ukrainischen Center for Civil Liberties: Sie posten mit Applaus versehen die Entscheidung des Nobelpreiskommittees, teilen Spendenaufrufe - oder schreiben zugespitzt: "Alle meine Freunde sind Nobelpreisträger".
Mit dem Friedensnobelpreis ist gelungen, was Putin durch Zwang und Gewalt niemals erreichen wird: Russland, Belarus und die Ukraine zusammenzubringen - als eigenständige Staaten, deren drei Völker sich nicht unterdrücken lassen wollen.
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