EU-Kandidatenstatus der Ukraine Verdient - aber mit Vorbehalt
Die Ukraine hat es verdient, von der EU zum Beitrittskandidaten ernannt zu werden, meint Helga Schmidt. Dennoch dürfe das Land keine Sonderbedingungen bekommen. Denn von einem demokratischen Rechtsstaat sei die Ukraine noch weit entfernt.
Noch nie hat die EU-Kommission so aufs Tempo gedrückt, noch nie hat sie den Beitrittsantrag eines Landes so schnell abgearbeitet. Sonst dauert das Jahre, dieses Mal klappte es in Rekordgeschwindigkeit. Nicht mal vier Monate sind vergangen, seit die Ukraine den Antrag gestellt hat. Das war wenige Tage nach Kriegsbeginn.
Diese besondere Behandlung hat das Land verdient. Es ist gut, dass von Brüssel die Botschaft an die Menschen in der Ukraine geht: Europa lässt euch nicht allein, es gibt eine Perspektive, eine Chance auf eine gute Zukunft nach dem Krieg. Hoffnung also. Die gleiche Botschaft geht an die junge Republik Moldau, deren engagierte und demokratisch gewählte Regierung von Moskau in die Zange genommen wird, bisher nur verbal und mit Drohungen.
Ukraine weit entfernt von demokratischem Rechtsstaat
Es ist noch gar nicht sicher, ob die EU-Staats- und Regierungschefs sich geschlossen hinter die Empfehlung der Brüsseler Kommission stellen. Sie sollten das nur tun, wenn sie die Eintrittskarte für den Club auch an strenge Auflagen knüpfen. Gerade für die Ukraine ist das wichtig.
Sicher, das Land kämpft gerade ums Überleben als Nation. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ukraine schon vor dem Krieg weit entfernt war von einem demokratischen Rechtsstaat. Schon vor dem Krieg landete das Land auf der Korruptionsliste von Transparency International ganz weit hinten - auf Platz 122 von 180 Ländern. Vetternwirtschaft ist an der Tagesordnung, Oligarchen und korrupte Staatsbeamte bereichern sich, die Korruption geht bis in die Spitzen des Staates.
Zudem fehlen unabhängige Staatsanwälte und Ermittler, die dagegen vorgehen könnten. Und es fehlen unabhängige Richter, die darüber urteilen könnten. Erst wenn sich das ändert, nachprüfbar ändert, darf die EU beginnen mit den konkreten Verhandlungen, die in vielen Jahren, wenn alles gut läuft, eines Tages zum Eintritt in den Club führen.
Keine Sonderbedingungen für Kiew
Also keine besondere Behandlung, wenn es um europäisches Recht geht. Kein Bonus für die Ukraine - auch wenn das jetzt vielleicht harsch klingen mag. In einem Moment, in dem russische Bomben auf das Land fallen und völlig unklar ist, wann und wie ein Waffenstillstand überhaupt erreicht werden kann.
Ein Land mitten im Krieg soll Beitrittskandidat werden - das hat es noch niemals gegeben, das ist ein Experiment, auch für die Brüsseler Kommission, auch für die 27 Staats- und Regierungschefs. Wenn sie beim nächsten Gipfel die Entscheidung treffen, sollten sie einmal kritisch in die eigene Runde blicken und sich ganz tief in die Augen schauen.
Da sitzen nämlich Regierungschefs mit am Tisch, die nach heutigem Standard gar nicht mehr die Aufnahmeregeln erfüllen würden. Ungarn und Polen verletzten seit Jahren systematisch europäisches Recht, bisher haben die anderen Europäer fast immer nur tatenlos zugeguckt. Sie haben jetzt die Chance, es mit der Ukraine besser zu machen und von Anfang an klarzustellen: Wer Beitrittskandidat sein will, der muss die Regeln des Clubs akzeptieren. Ohne Sonderbedingungen.
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