Krieg gegen die Ukraine Was bedeuten die Geländeverluste?
Die russischen Truppen rücken in der Ostukraine vor - allerdings langsamer als geplant und mit vielen Verlusten. Was bedeuten die Gebietsgewinne, und wie geht es nun weiter?
Was bedeutet der Verlust der Region Luhansk?
In vieler Hinsicht werde sich das Schicksal des Donbass in Sjewjerodonezk entscheiden. Das sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Anfang Juni. Vielleicht ein Grund dafür, dass sich auch in der Berichterstattung der Mythos etabliert hat, die Städte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk seien strategisch wichtig.
"Der Verlust von Lyssytschansk und Sjewjerodonezk bedeutet militärisch praktisch nichts", sagt der ukrainische Militärexperte Oleg Schdanow. Für Wladimir Putin sind sie politisch wichtig, er kann nun einen Sieg verkünden. Zumindest, wenn die Zuhörerschaft bereit ist zu vergessen, dass das Kriegsziel Russlands einmal die Einnahme der Hauptstadt Kiew gewesen ist.
"Die Kosten für Russland waren sehr hoch. Es ist ein symbolischer Sieg", sagt der ukrainische Militärexperte Oleksij Melnyk vom Razumkow-Zentrum in Kiew. Russland habe einen Großteil seiner Ressourcen an Waffen und Soldaten in die Eroberung der Zwillingsstädte gesteckt.
Wie geht es in der Ostukraine weiter?
Nach der Einnahme der Zwillingsstädte Lyssytschanks und Sjewjerodonezk sind die russischen Truppen nicht mehr weit davon entfernt, die gesamte Region Luhansk zu erobern. Nun stehen die Städte Slawjansk und Kramatorsk in der Region Donezk im Fokus. Im Gegensatz zu Lyssytschansk und Sjewjerodonezk sind sie strategisch wichtig. Hier verlaufen wichtige Nachschublinien der ukrainischen Truppen.
Wie schnell die russischen Truppen vorrücken können, hänge davon ab, wie schnell die Russen neue Ausrüstung beschaffen können, sagt Oleksij Melnyk. Bisher seien die russischen Truppen täglich drei bis fünf Kilometer vorgerückt. "Das ist nicht sehr schnell."
Russlands Präsident Wladimir Putin kündigte eine operative Pause an. Für Melnyk ein Zeichen dafür, dass Russland in den Kämpfen um Sjewjerodonezk und Lyssytschanks schwere Verluste erlitten habe. "Wir können mit großer Sicherheit sagen, dass beide Seiten im Durchschnitt jeden Tag etwa 100 bis 150 Soldaten verlieren und etwa 300 bis 500 verwundet werden", so Melnyk. Militärexperte Oleg Schdanow erwartet einen Stellungskrieg in der Ostukraine. "Schon heute kann Russland seine Offensive auf Bachmut oder Slawjansk nicht mehr fortsetzen."
Kann es zu ukrainischen Gegenoffensiven kommen?
Die Ukraine bereite eine Gegenoffensive vor, um Cherson im Süden der Ukraine zurückzuerobern, titelte vor wenigen Tagen die Wochenzeitung "The Economist". Und in der Tat scheint es an der südlichen Front seit geraumer Zeit Bewegungen zu geben. Doch für einen Gegenangriff fehlten der Ukraine zum aktuellen Zeitpunkt die Kraft und vor allem die Waffen, sagen Experten. "Wir sind jetzt vollständig abhängig von den Waffenlieferungen unserer westlichen Partner", sagt Oleg Schdanow. Wenn die angekündigten Waffen die Ukraine zeitnah erreichen, könne eine Gegenoffensive noch im August beginnen. Die Soldaten vor Ort berichten von erbitterten, schweren Kämpfen. Ohne westliche Waffen sei ein Vorrücken ausgeschlossen, sagen viele.
Sollte es zu einer Gegenoffensive im Süden kommen, müsste die Ukraine versuchen, die Versorgungslinien der russischen Truppen abzuschneiden, erklären Experten. Man müsse den russischen Truppen eine "strategische Niederlage beibringen, um sie zum Rückzug zu zwingen", so Oleksij Melnyk.
Die Möglichkeiten seien durchaus gegeben. Das Gelände bei Cherson könne es den ukrainischen Truppen ermöglichen, die Russen einzukesseln. Und schon jetzt zerstören die Ukrainer mit westlichen Waffen gezielt Munitionsdepots tief in russisch-kontrolliertem Gebiet. Ein Sturm auf Cherson hält Melnyk jedoch für weniger realistisch. Die Stadt ist dicht besiedelt und ein Angriff könnte viele zivile Opfer fordern.
Wie realistisch ist die Wiederherstellung der territorialen Integrität?
Der ukrainische Präsident Selenskyj will den Krieg bis Ende des Jahres beenden. Auch die Rückeroberung der seit 2014 von Russland besetzten Krim und der sogenannten Volksrepubliken im Donbass wird dabei von vielen ukrainischen Offiziellen als realistisches Kriegsziel genannt. Oleksij Melnyk hält das aber für unwahrscheinlich: "Ich nehme an, dass Präsident Selenskyj eher über seine Wünsche und Hoffnungen anstatt über tatsächliche Pläne gesprochen hat."
Der Militärexperte will keine Prognose wagen, wann der Krieg gegen die Ukraine beendet sein könne. Dafür gäbe es zu viele Faktoren, die eine Rolle spielen können. Realistisch sei aus seiner Sicht ein Friedensabkommen, sobald die Grenzen von vor dem 24. Februar wieder erreicht seien.
Experte Oleg Schdanow hingegen sieht sogar Chancen, die Krim zurückzuerobern. Dort befänden sich aktuell mehr verletzte als einsatzfähige Soldaten. "Von den Bodentruppen sind noch ein oder zwei Brigaden übrig. Daher sind die Chancen, jetzt auf die Krim zu gelangen, sehr hoch."