Arbeitszeit in deutschen Betrieben 35-Stunden-Woche - funktioniert das?
Personalmangel ist ein Problem in fast allen Branchen. Trotzdem bieten immer mehr Unternehmen ihren Mitarbeitern sogar freiwillig verkürzte Arbeitszeiten bei gleichem Lohn an. Ein Widerspruch?
Privatwirtschaftliche Wettbewerber der Deutschen Bahn betreiben rund ein Drittel aller Nahverkehrszüge. Die meisten davon haben bereits einen Tarifabschluss mit der GDL, inklusive schrittweiser Verkürzung der Arbeitszeit auf 35 Stunden. Auf die Frage, wie das mit akutem Personalmangel zusammenpasst, gibt der Geschäftsführer ihres Verbandes eine eindeutig Antwort: Die Hoffnung sei es, dadurch Fachkräfte anzulocken, damit sie den Beruf des Lokführers ergreifen. Denn, so Matthias Stoffregen von Mofair e.V.: "Es kann uns nicht ganz egal sein, wenn in anderen Branchen sich die vier Tage Woche schon etabliert hat."
Die IG-Metall kämpfte seit den 1970er-Jahren für die Einführung der 35-Stunden-Woche. 1996 wurde sie in den Metalltarifverträgen für Westdeutschland eingeführt, aktuell nun auch für Arbeitnehmer in Ostdeutschland. Fast zehn Prozent aller Arbeitnehmer in Deutschland haben also das, was die GDL nun fordert und Wettbewerber der DB bereits akzeptiert haben.
Und es klingt ja durchaus plausibel, dass potenzielle Arbeitskräfte lieber 35 Stunden in einer Werkhalle stehen, als für vergleichbaren Lohn aber deutlich mehr Stunden eine Lokomotive zu bewegen.
Positive Erfahrungen in unterschiedlichen Branchen
Auch Gastronomen klagen über Fachkräftemangel. Auch hier versuchen Arbeitgeber mit verkürzter Arbeitszeit Fachkräfte zu sich zu locken. Etwa die 25hours Hotels, die in deutschsprachigen Großstädten ein Dutzend Häuser betreiben. Hier arbeiten Mitarbeiter an nur noch vier Tagen pro Woche jeweils eine Stunde länger als vorher, insgesamt nun 36 Stunden - bei gleich bleibendem Lohn.
"Wir merken, dass wir einen stetigen Strom an Bewerbungen haben und viele Bewerber gerade uns wählen, weil sie sagen: Da habe ich eine Vier-Tage-Woche", sagt Zoe Grünwaldt, Personalmanagerin bei 25hours. Durch die eine Stunde mehr pro Tag fielen weniger Überstunden an, Schichten würden besser planbar, so die Personalverantwortliche. Beschäftigte seien motivierter, arbeiteten besser, man brauche weniger teure Aushilfskräfte. "Für uns wirkt es."
In Großbritannien wurde der Effekt verkürzter Arbeitszeit bei 61 Unternehmen wissenschaftlich untersucht: Fluktuation und Krankmeldungen wurden mehr als halbiert, die Umsätze bei gleichem Personalstand sogar geringfügig gesteigert. Nach Ende des Pilotversuchs behielten 56 Unternehmen die Vier-Tage-Woche freiwillig bei.
"Mitarbeiter motivierter und gesünder"
Der mittelständische Unternehmer Timo Goekeler produziert südlich von Stuttgart spezielle Werkzeuge für Messgeräte. Bei gleichem Lohn wird hier nur noch vier Tage gearbeitet - mit 34 Wochenstunden. Das spart auch Energiekosten.
Goekeler stellte fest, dass seine Mitarbeiter im Büro durch rationellere Organisation und Digitalisierung Arbeitszeit sparen - und gab diese "digitale Dividende" an seine Mitarbeiter weiter. Auch in der Produktion, wo hochkonzentriert sehr filigrane Arbeit geleistet werden muss, sei dies der Qualität zuträglich.
Der Unternehmer wollte ursprünglich durch verkürzte Arbeitszeit vor allem Fachkräfte für sich gewinnen. Nach einem Jahr stellte er fest, dass bei gleicher Mitarbeiterzahl - trotz weniger Arbeitsstunden - Umsatz und Gewinn zweistellig gestiegen waren. "Meine Mitarbeiter sind motivierter und auch gesünder", sagt Goekeler. "In Baden-Württemberg hatten wir im letzten Jahr 4,7 Prozent Krankenstand. Bei uns war es mit 2,2 Prozent nicht mal die Hälfte dessen."
Weniger Wohlstand durch weniger Arbeit?
Beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln forscht Oliver Stetten zu Arbeitszeitmodellen. Eine kürzere Arbeitszeit könne in einigen Unternehmen möglicherweise zu höherer Produktivität führen, so Stetten. Der Experte glaubt aber, dass dies bei weitem nicht auf alle Branchen und Betriebe übertragbar sei. Ein Lokführer etwa könne nun mal nicht einfach schneller fahren. "Und es ist vielleicht auch nicht zielführend, dass Mediziner schneller operieren."
Vor allem aber: In den kommenden Jahren gehen zunehmend Babyboomer in Rente, die Zahl der Arbeitskräfte sinkt. Wenn weniger Beschäftigte insgesamt auch weniger Stunden arbeiten - wer soll die ganze Arbeit machen? Und wie lässt sich der Wohlstand des Landes erhalten?
Länger arbeiten durch mehr Fitness?
Die Unternehmensberaterin Andrea Wetzel widerspricht. Sie hat schon Dutzende Firmen beraten, wie diese verkürzte Arbeitszeiten möglichst effektiv einführen können. Nach ihren Erfahrungen funktioniert das fast immer. Auch sie verweist auf einen geringeren Krankenstand und sieht gesamtwirtschaftliches Potenzial. "Wenn ich drei Tage für die Regeneration habe, bleibe ich gesünder, bin länger fit und kann länger arbeiten", so Wetzel. "Das heißt: Auch im Alter erschließe ich noch Ressourcen." Wenn in einer Familie etwa der Mann in einer Vier-Tage-Woche einen Werktag frei habe, könne die Frau, die oft nur Teilzeit arbeite, eben auch einen Tag mehr arbeiten.
Tatsächlich gibt es in Deutschland noch keine wissenschaftliche Untersuchung über die Auswirkungen einer 35-Stunden oder einer Vier-Tage-Woche. Ein Anfang Februar gestartetes Pilotprojekt bei 50 Firmen wird von der Universität Münster wissenschaftlich begleitet. Ob die Ergebnisse ähnlich positiv ausfallen, ist offen. Schon heute steigt allerdings die Zahl der Unternehmen, in denen Mitarbeiter ähnlich kurze Arbeitszeiten haben wie - seit mehr als 25 Jahren - die Mitarbeiter der Metallindustrie. Es sieht aktuell so aus, als sei dieser Trend kaum noch zu stoppen.