Gewerkschaften Wie das soziale Europa Gestalt annimmt
Am 1. Mai machen in mehreren deutschen Städten Gewerkschaften für gute Arbeitsbedingungen mobil. Auch in Europa haben sie einiges erreicht - gegen Widerstände.
Das "soziale Europa" war lange vor allem eine wohlklingende Floskel in Sonntagsreden. Denn Brüssel hat in der Sozialpolitik wenig zu melden, dafür sind weitgehend die Mitgliedsstaaten zuständig. Aber die EU bewegt sich doch, und das überrascht manchmal sogar Fachleute - etwa Tania Bergrath, die das Büro des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Brüssel leitet.
Nach ihren Worten hätte vor wenigen Jahren niemand gedacht, dass die europäische Mindestlohnrichtlinie in dieser Legislaturperiode ein Erfolg wird. Im Herbst 2022 wurde sie beschlossen. Die Regelung kann zwar Mitgliedsstaaten nicht verpflichten, einen Mindestlohn einzuführen. Aber EU-Länder, die wie Deutschland schon einen haben, müssen dafür einen Rahmen schaffen und Mindestlöhne regelmäßig anpassen. Die Regierungen sollen Pläne aufstellen, um die Tarifbindung der Beschäftigten auf 80 Prozent zu steigern.
"Keine ökonomische Abrissbirne"
Löhne auszuhandeln ist und bleibt Sache der Tarifparteien vor Ort. Aber mehr Unternehmen in Tarifbindung bringen - das könne man von Europa aus anschieben, erklärt DGB-Vertreterin Bergrath. In der Mindestlohndebatte hat sie Erfahrungen mit dem deutschen Modell in Brüssel eingespeist: "Wir haben in Deutschland gesehen, dass das eben keine ökonomische Abrissbirne ist, die etwas zum Einsturz bringt, sondern dass es ganz im Gegenteil Beschäftigungsverhältnisse stärkt, dass das immer nur eine Reißleine nach unten sein kann. Wir konnten da mit nationalen Beispielen die Diskussion in Brüssel bereichern."
Das hat der DGB auch in der Debatte über das Lieferkettengesetz getan, für das es wie für die Mindestlohnregelung schon ein deutsches Vorbild gab. Vergangene Woche hat das EU-Parlament die Lieferketten-Richtlinie beschlossen. Demnach müssen Unternehmen nachweisen, dass sie nicht von Ausbeutung wie Kinder- oder Zwangsarbeit profitieren.
Kurzarbeitergeld nach deutschem Vorbild
Die EU-Abgeordneten haben außerdem das Gesetz für mehr Rechte von Plattformarbeitern gebilligt. Beschäftigte von Uber, Lieferando, Deliveroo und Co. sollen wie normale Angestellte behandelt werden. Das soziale Europa nimmt Konturen an - und zwar seit Jahren. Auch hier scheint zu gelten, dass sich Europa vor allem in Krisen weiterentwickelt. Jedenfalls werten Experten die sozialen Errungenschaften als Reaktion auf wirtschaftliche Flauten und die Corona-Pandemie. Um deren Folgen für die Beschäftigten abzumildern, hat die EU das Kurzarbeitergeld SURE eingeführt - nach deutschem Vorbild.
Die größte Transformation steht Europa noch bevor - hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft. In Brüssel kümmert sich Dirk Bergrath von der Europa-Vertretung der IG Metall darum, dass dabei die Beschäftigten mitgenommen werden: "Dabei geht es einerseits um die industriepolitische Zukunft in Europa und andererseits konkret um Auswirkungen der CO2-Grenzwerte für Pkw auf die Arbeitsplätze."
Dachverband verhandelt
Die IG Metall setzt sich dafür ein, dass Betriebsrätinnen und -räte gehört werden, wenn die EU-Kommission über Fusionen von Unternehmen entscheidet - oder dafür, dass das EU-Beihilferecht der Förderung von Firmen nicht entgegensteht. Dabei verhandeln deutsche Gewerkschaften nicht direkt mit Kommission und EU-Parlament. Das macht in ihrem Namen der Gewerkschaftsdachverband ETUC. Er muss die Interessen der sehr unterschiedlich organisierten Gewerkschaften aus den 27 Mitgliedsstaaten bündeln.
Beim 50-jährigen Jubiläum vor einem Jahr würdigte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Rolle von ETUC für die soziale Marktwirtschaft: "In manchen Teilen der Welt dient die Wirtschaft allein der Gewinnmaximierung - reiner Kapitalismus. Hier in Europa dagegen müssen auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer genau wie die Gesellschaft als Ganzes profitieren können. Es herrscht ein klares Einverständnis bei uns. Es ist völlig in Ordnung, Gewinne zu erzielen, aber alle müssen ihren Anteil bekommen."
Enger Kontakt zu EU-Abgeordneten
Abgeordnete der pro-europäischen Fraktionen im EU-Parlament teilen diese Überzeugung - der Kontakt zu den Gewerkschaften ist eng. Der Christdemokrat Dennis Radtke sitzt im Sozialausschuss des Parlaments. Nach seinen Worten nehmen die Gewerkschaften in Brüssel aktiv Einfluss und konnten so in der ablaufenden Legislaturperiode einiges durchsetzen.
Nach Ansicht des SPD-Europaabgeordneten René Repasi werden die Herausforderungen nicht kleiner: "Wir haben jetzt wegen der Inflation bessere Lohnabschlüsse bekommen. Das wird sich drehen, und dann müssen Gewerkschaften besonders stark sein, um Tariflöhne weiter durchzusetzen. Und dann müssen wir von europäischer Ebene auch kommen, um Tarifverträge zu schützen."
Es bleibt also auch in der nächsten Legislaturperiode genug zu tun für Politik und Gewerkschaften in den Mitgliedsstaaten und auf europäischer Ebene. Gerade der Einsatz für ein soziales Europa bringe die EU den Menschen näher, meint Tania Bergrath vom DGB in Brüssel: "Ich glaube, das wird vermittelbarer und anschaulicher, wenn man konkrete Beispiele aus der Arbeitswelt aufzeigen kann, die mit der der Lebensrealität von Menschen zu tun haben."