Steigende Löhne Kehrt die Kaufkraft zurück?
In diesem Jahr laufen Tarifverträge für knapp zwölf Millionen Beschäftigte aus - in wichtigen Branchen. Experten erwarten deutliche Lohnerhöhungen. Was heißt das für die finanzielle Lage der Haushalte?
Dass die deutsche Wirtschaft im vergangenen Jahr um 0,3 Prozent geschrumpft ist, hat auch mit der Zurückhaltung der Verbraucherinnen und Verbraucher zu tun. Der private Konsum wird maßgeblich von der Kaufkraft beeinflusst - also von den Nominallöhnen abzüglich Preisänderungen. Der sogenannte Reallohn bestimmt somit den Verdienst, über den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tatsächlich verfügen.
Durch die starke Inflation in den vergangenen Jahren sind die realen Tariflöhne in Deutschland im Schnitt mittlerweile auf das Niveau von 2016 zurückgefallen, wie das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung jüngst mitteilte. Doch was bedeutet das genau? Und was erwarten Experten für 2024?
Stagnierende Reallöhne im vergangenen Jahr
Im vergangenen Jahr starteten die Reallöhne eine leichte Erholung. Im zweiten Quartal stieg die Kaufkraft erstmals seit zwei Jahren wieder. Denn nicht nur die Teuerungsrate ging Stück für Stück zurück, auch die Einkommensentwicklung zeigte nach oben. So stiegen die Tariflöhne im Gesamtjahr laut WSI nominal um durchschnittlich 5,5 Prozent.
Bereinigt um die Preissteigerungen von 5,9 Prozent gingen die Reallöhne zwar trotzdem um 0,4 Prozent zurück. "Doch inklusive der Steuer- und Abgabeersparnis der Inflationsprämie konnte die Kaufkraft der Beschäftigten annähernd gesichert werden", sagte der Leiter des WSI-Tarifarchivs, Thorsten Schulten, im Gespräch mit tagesschau.de.
Außerdem geht es in der Rechnung nur um die tarifvertraglich vereinbarten Löhne. In Deutschland arbeitet jedoch nach Angaben des Statistischen Bundesamts (Destatis) nur knapp die Hälfte der Beschäftigten in einem tarifgebundenen Betrieb. Einschließlich aller anderen sind die Löhne Destatis und dem Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) zufolge nominal um sechs Prozent nach oben geklettert. So gerechnet stagnierten die Reallöhne im vergangenen Jahr mit einem minimalen Plus von 0,1 Prozent.
Reales Plus von etwa drei Prozent erwartet
"Wir haben momentan das Phänomen, dass die Löhne in den nicht tarifgebundenen Bereichen deutlich schneller gestiegen sind als in den tarifgebundenen Bereichen", erklärt Dominik Groll, Leiter der Arbeitsmarktanalyse am IfW, gegenüber tagesschau.de. Das liege vor allem an der Laufzeit der Tarifverträgen von bis zu zwei Jahren. "Die Tariflöhne können nicht so schnell auf die steigenden Preise reagieren."
Für das laufende Jahr rechnet Groll laut IfW-Prognose von Dezember mit einer nominalen Lohnsteigerung von 5,6 Prozent. Bei einer mutmaßlichen Inflationsrate zwischen zwei und drei Prozent ergebe das ein reales Plus von rund drei Prozent. Dass die Reallöhne wieder kräftig steigen werden, glaubt auch Sebastian Link, Arbeitsmarktforscher beim ifo-Institut. "Bei den Bruttolöhnen und Gehältern je Arbeitnehmer dürfte der Zuwachs bei um die vier Prozent liegen", teilt er tagesschau.de auf Anfrage mit.
Doch reichen die erwarteten Steigerungen aus, die Kaufkraftverluste aus den vergangenen Jahren aufzufangen und die Konsumausgaben der Deutschen zu stabilisieren? Von 2020 bis 2022 sind die Reallöhne drei Mal in Folge gesunken. 2022 sackten sie gar um satte vier Prozent ab - so stark wie noch nie seit Beginn der Berechnungen im Jahr 2008.
Kaufkraft weiter niedriger als 2020
"Innerhalb von zwei Jahren sind die Zuwächse aus einem halben Jahrzehnt verloren gegangen", meint WSI-Fachmann Schulten. Die Kaufkraft der Beschäftigten sei Ende 2023 im Mittel sechs Prozentpunkte niedriger als 2020 ausgefallen. Um das aufzuholen, sei also mindestens eine reale Lohnsteigerung von sechs Prozent nötig. Das sei innerhalb eines Jahres nicht realistisch, sondern dauere eher zwei bis drei Jahre, so Schulten.
"Wenn unsere prognostizierte Reallohnsteigerung von drei Prozent eintritt, hätten wir aber zumindest wieder das Niveau von 2019 erreicht - also vor der Corona- und der Energiekrise", sagt Groll. Das sei auf den ersten Blick eine gute Nachricht. Allerdings: "Selbst dann wären wir noch etwa fünf Prozent unter dem Stand, auf dem wir wohl ohne die Krisen liegen würden."
Denn in der Regel steigen die Reallöhne in Einklang mit der Arbeitsproduktivität, die wiederum maßgeblich vom technischen Fortschritt bestimmt wird. Weil die Arbeitnehmer von Jahr zu Jahr mehr erwirtschaften, ist es gerechtfertigt, dass sie real einen höheren Lohn verdienen - normalerweise. "Obwohl die Gewerkschaften 2023 vergleichsweise kräftige Lohnsteigerungen durchgesetzt haben, gab es trotzdem viel Unzufriedenheit", erläutert Schulten.
Besonders Bauwirtschaft mit großem Nachholbedarf
Der Leiter des WSI-Tarifarchivs geht in diesem Jahr erneut von einer "offensiven Tarifrunde" aus. "Die durchschnittliche Laufzeit von Tarifverträgen liegt derzeit bei zwei Jahren. Diejenigen, die jetzt bald verhandeln, haben die hohen Lohnsteigerungen aus dem vergangenen Jahr noch nicht realisiert", sagt Schulten. Es gebe dementsprechend Nachholbedarf.
Von Dezember 2023 bis Dezember 2024 enden laut WSI von DGB-Gewerkschaften vereinbarte Vergütungstarifverträge für knapp zwölf Millionen Beschäftigte. Unter anderem laufen die Vereinbarungen in großen Zweigen wie der Chemischen Industrie oder der Metall- und Elektroindustrie im Juni beziehungsweise September aus. Schon in Kürze stehen zudem Gespräche im Bauhauptgewerbe an. "Vor allem die Bauwirtschaft hat einen großen Rückstand, dort ist der letzte reguläre Tarifabschluss schon über zwei Jahre her", betont Schulten.
Neben dem Erwartungsdruck spiele indes auch die Bereitschaft der Menschen, sich an Warnstreiks zu beteiligen, eine wesentliche Rolle bei Tarifgesprächen. "2023 waren die Gewerkschaften teils selbst überrascht, wie viele Beschäftigte ihren Aufrufen gefolgt sind. Diese Dynamik wird sich fortsetzen", glaubt der Experte. Selbst in der traditionell eher als zurückhaltend geltenden Chemieindustrie seien Streiks als mögliche Option inzwischen eingeplant.
Streiks wohl weniger öffentlichkeitswirksam
Ein gegenläufiger Effekt sei allerdings die Betroffenheit der Wirtschaftszweige von der konjunkturellen Schwächephase und industriellen Umbrüchen, betont Schulten. "Immer mehr Unternehmen kündigen Entlassungen an, was sich mit Blick auf Arbeitsplatzverluste dämpfend auf die Tarifforderungen und die Bereitschaft zum Streik auswirken könnte."
Ganz grundsätzlich habe die Arbeitnehmerseite jedoch aufgrund des Fachkräftemangels deutlich an Verhandlungsmacht gewonnen, meint IfW-Forscher Groll. "Auch deshalb erwarte ich wieder eine rege Streiktätigkeit in diesem Jahr." Für die Verbraucherinnen und Verbraucher seien die Folgen von Arbeitsniederlegungen in industriellen Bereichen oder auf dem Bau kurzfristig aber kaum spürbar.
"Es gibt immer eine tatsächliche und eine gefühlte Streiklage", ergänzt Schulten. Letztere sei etwa im Verkehrssektor sehr hoch, wenn Bahnen oder Busse nicht fahren. "Wenn die IG Metall als größte Gewerkschaft massiv zu einem Warnstreik ausruft, würden zwar weitaus mehr Beschäftigte auf die Straße gehen. Doch es fühlt sich für die Verbraucherinnen und Verbraucher komplett anders an."