Kauf von Staatsanleihen EZB-Urteil mit Konfliktpotenzial
Das Bundesverfassungsgericht urteilt heute zum umstrittenen Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB. Der Fall geht über die Corona-Krise hinaus.
Worum geht es im Kern?
Der Streit geht darum, ob die Europäische Zentralbank (EZB) mit ihrem Programm zum Ankauf von Staatsanleihen "Public Sector Purchase Programme" (PSPP) mehr macht, als sie nach den EU-Verträgen darf. Nämlich Wirtschaftspolitik und Staatsfinanzierung. Das Gerichtsverfahren hat mehrere Schritte durchlaufen. In Schritt eins hat das Bundesverfassungsgericht 2017 starke Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Programms angemeldet und den Fall dem EuGH vorgelegt, weil es um die Auslegung von EU-Recht geht.
In Schritt zwei hat der Europäischen Gerichtshof (EuGH) im Dezember 2018 entschieden, dass das EZB-Programm nicht gegen EU-Recht verstößt. Nun steht Schritt drei an. Das Bundesverfassungsgericht muss über die Klagen abschließend entscheiden, ob ein Verstoß gegen das deutsche Grundgesetz vorliegt. Die spannende Frage ist, ob das BVerfG die Aussagen aus Luxemburg akzeptiert oder nicht, und ob es der Deutschen Bundesbank Grenzen setzt, sich an dem noch laufenden EZB-Programm zu beteiligen.
Spielt die Corona-Krise in diesem Fall eine Rolle?
Ja und nein. Die Karlsruher Entscheidung sollte ursprünglich am 24. März verkündet werden. Das Urteil war schon Wochen vorher fertig, also vor der Corona-Krise. Es wurde auch nicht mehr verändert, nur die Verkündung auf den 5. Mai verschoben. Durch die Corona-Krise gewinnt das Urteil aber an Brisanz.
In der Zwischenzeit hat die EZB das Anleihenprogramm im konkreten Fall wegen Corona um 120 Milliarden Euro erhöht. Die EZB hat auch ein neues, separates Anleihenprogramm (PEPP) im Volumen von 750 Milliarden Euro aufgelegt. Das neue Programm ist jedoch nicht Gegenstand der Klage. Daher spricht viel dafür, dass sich das Bundesverfassungsgericht dazu nicht äußern wird.
Was hat der Streit mit dem einzelnen Bürger zu tun?
Mehr als man denkt. Die EZB ist eine unabhängige EU-Institution. Sie muss sich - anders als Regierungen und Parlamente - nicht gegenüber dem Wähler verantworten. Deutschland hat durch die Volksvertreter im Bundestag Kompetenzen auf die EU übertragen, die Zuständigkeit für Währungspolitik auf die EZB. Wenn eine EU-Institution dann aber mehr machen würde, als sie nach den EU-Verträgen darf, hätte der deutsche Bürger dem - vereinfacht gesagt - nicht zugestimmt.
Es geht also um Grundfragen der Demokratie. Und für die finanziellen Risiken der EZB kann ganz am Ende auch der deutsche Staatshaushalt haften. Deshalb hat Karlsruhe in solchen Fällen schon seit vielen Jahren für einzelne Bürger in Deutschland ein Klagerecht eröffnet. Gegen das Staatsanleihen-Programm haben verschiedene Einzelpersonen Verfassungsbeschwerde eingelegt, darunter Peter Gauweiler (CSU).
Kann das Bundesverfassungsgericht der EZB etwas direkt verbieten?
Nein. Nur der EuGH kann der EZB etwas unmittelbar verbieten. Ein direktes Klagerecht einzelner Bürger zum EuGH gibt es in Fällen wie diesem aber nicht, sondern nur über den "Umweg" der nationalen Gerichte, die eine Frage zum EU-Recht in Luxemburg vorlegen. In Wenn EU-Organe sich außerhalb ihrer Kompetenzen bewegen, kann das auch ein Verstoß gegen das Grundgesetz sein. Denn Deutschland hat Kompetenzen nur in begrenztem Umfang an die EU übertragen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich insoweit für absolute Ausnahmefälle das "letzte Wort" vorbehalten.
Was darf die EZB und was nicht?
Nach den EU-Verträgen ist Aufgabe der EZB die Geldpolitik - mit dem Ziel, eine stabile Währung mit stabilen Preisen zu gewährleisten. Nicht erlaubt ist ihr dagegen, selbst Wirtschaftspolitik zu machen. Das ist vorrangig Aufgabe der Mitgliedsstaaten, also der Politik. Das EU-Recht regelt für die EZB außerdem ein "Verbot monetärer Staatsfinanzierung". Die EZB darf also nicht die Staatshaushalte überschuldeter EU-Staaten retten.
Wie funktioniert das EZB-Programm?
Am 22. Januar 2015 hat der EZB-Rat das Programm PSPP beschlossen. Jeden Monat kauften die EZB und die nationalen Notenbanken der Euro-Staaten für ursprünglich 60 Milliarden Euro Wertpapiere auf, die bereits auf dem Markt sind ("Sekundärmarkt"); darunter Staatsanleihen von allen EU-Staaten nach einem bestimmten Länderschlüssel.
Nicht nur für kriselnde Staaten sind Staatsanleihen ein zentrales Instrument, um sich frisches Geld an den Märkten zu besorgen. Insgesamt umfasst das Volumen des Programms 2,6 Billionen Euro. Aus Sicht der EZB ist diese lockere Geldpolitik notwendig, um die Inflation, also die Preissteigerung, zu erhöhen und dadurch eine erneute Wirtschaftskrise zu verhindern. Seit September 2018 hat die EZB das monatliche Ankaufvolumen reduziert, zwischenzeitlich sogar auf null. Aktuell umfasst das Gesamtprogramm Ankäufe von 20 Milliarden Euro pro Monat, plus 120 Milliarden Euro zusätzlich wegen der Corona-Krise bis Ende 2020.
Warum ist die Vorgeschichte des Streits wichtig?
Es gibt eine Art "Vorläufer" für den aktuellen Streit: Das EZB-Anleihenprogramm "OMT". Dabei ging es um den Ankauf von Staatsanleihen einzelner Krisenstaaten. EZB-Präsident Draghi hatte es im Sommer 2012 auf dem Höhepunkt der Euro-Krise angekündigt ("whatever it takes"). Dieses Programm wurde bislang nicht umgesetzt. Im Juni 2015 erklärte der EuGH es - ebenfalls nachdem das Bundesverfassungsgericht Zweifel angemeldet hatte - für rechtmäßig.
Im OMT-Urteil hat der EuGH entschieden, dass auch die unabhängige EZB einer gerichtlichen Kontrolle unterliegt und gewisse Kriterien für den Ankauf von Staatsanleihen gelten. Der Ankauf dürfe für die Märkte nicht vorhersehbar sein. Die EU-Staaten müssten zum Beispiel weiterhin den Anreiz haben, selbst solide Haushaltspolitik zu machen.
Was hat das Bundesverfassungsgericht am aktuellen Programm kritisiert?
Im aktuellen Vorlagebeschluss an den EuGH hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, es sprächen "gewichtige Gründe" dafür, dass das Programm gegen das Verbot der Haushaltsfinanzierung verstoße. Es äußert massive Zweifel, ob die vom EuGH im OMT-Fall aufgestellten Kriterien eingehalten werden. Zum Beispiel: Anleihekäufe dürften nicht angekündigt werden.
Die Eckdaten seien hier aber klar umrissen. Es herrsche faktisch Gewissheit, dass ein Drittel der Anleihen aufgekauft werden. Es müsse außerdem eine Mindestfrist zwischen Ausgabe und Aufkauf der Anleihen geben. Die EZB halte diese Frist aber geheim, eine Kontrolle sei also nicht möglich. Das Programm ist aus Karlsruher Sicht zudem "Wirtschaftspolitik durch die Hintertür", für die die Politiker der Mitgliedsstaaten zuständig seien.
Wie hat der EuGH sein "grünes Licht" begründet?
Der EuGH sah das anders. Er stellte fest, dass das Programm aus seiner Sicht zur erlaubten Geldpolitik zählt. Die EZB habe einen großen Spielraum, wie sie das Ziel stabiler Preise erreichen möchte. Ob das Programm auch indirekt Auswirkungen auf die Wirtschaftspolitik habe, sei nicht entscheidend. Die gebe es zwangsläufig, wenn man Einfluss auf die Inflationsrate nehmen wolle.
Und: Das Programm sei keine verbotene Staatsfinanzierung. Im "Kleingedruckten" seien Garantien eingebaut, damit an den Märkten gerade keine Gewissheit bestehe, die EZB werde die Staatsanleihen schon aufkaufen. Außerdem bestehe weiterhin der Anreiz für die Staaten, selbst solide Haushaltspolitik zu machen. Etwa, weil das Gesamtvolumen der Ankäufe monatlich begrenzt sei.
Wo liegt das Konfliktpotential zwischen Bundesverfassungsgericht und EuGH?
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Vorlage an den EuGH begründet, warum die EZB aus seiner Sicht mehr macht, als sie darf. Der EuGH sieht das anders. Dies allein führt noch nicht zu einem Konflikt. Karlsruhe hat immer gesagt, ein Urteil aus Luxemburg werde man nur dann nicht akzeptieren, wenn es aus Bundesverfassungsgericht-Sicht komplett unvertretbar sei. Als der Vorgängerfall OMT 2016 zurück ans Bundesverfassungsgericht kam, konnte Karlsruhe mit dem EuGH-Urteil leben und hat nach dem Motto "ja, aber" geurteilt, wie schon häufig beim Thema "Europa". Karlsruhe war es wichtig, dass der EZB am Ende zumindest gewisse rechtliche Grenzen gesetzt werden. Der Fall wurde als Beispiel für das "Kooperationsverhältnis" der beiden Gerichte gewertet.
Das Konfliktpotential ist im aktuellen Fall aber größer. Denn das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Man gehe davon aus, dass der EuGH im OMT-Urteil "rechtverbindliche Kriterien" aufgestellt habe, die auch für andere Programme gelten. Bei Lektüre des Urteils aus Luxemburg zum aktuellen Programm hat man den Eindruck, dass das Bundesverfassungsgericht und der EuGH bei der rechtlichen Bewertung deutlich auseinanderliegen.
Wie lief die Verhandlung Ende Juli 2019 in Karlsruhe?
Die kritische Haltung der Richterinnen und Richter war auch während der zweitägigen Verhandlung im Karlsruher Gerichtssaal bei vielen Nachfragen zu den praktischen Auswirkungen der EZB-Politik für die Bürgerinnen und Bürger sowie zur Verhältnismäßigkeit des Programms spürbar. Einige der Sachverständigen betonten jedoch, dass es schwierig sei, bei unterschiedlichen Programmen einheitliche Kriterien für die Einordnung als zulässige Geldpolitik oder als verbotene Staatsfinanzierung zu finden.
Welche Szenarien sind nun möglich?
Das schärfste Schwert wäre: Das Bundesverfassungsgericht akzeptiert das Urteil des EuGH nicht und untersagt der Deutschen Bundesbank, beim Anleihenprogramm der EZB mitzumachen. Dann könnte das Programm zwar weiterlaufen, müsste aber ohne den größten EU-Mitgliedsstaat auskommen.
Alternativ könnte das Gericht auch konkrete Bedingungen für eine Beteiligung der Bundesbank formulieren - oder die Verfassungsbeschwerden komplett abweisen. Das schärfste Schwert hat das Bundesverfassungsgericht zumindest bislang noch nie gezogen. Allein daraus kann man aber in diesem Fall keine Schlüsse ziehen.