EU bewertet Wirtschaftspolitik der Mitgliedsländer Zwischen Schulmeister und Schiedsrichter
Niemand lässt sich gerne bewerten und belehren - schon gar nicht Regierungen. Genau das aber macht regelmäßig die EU-Kommission. Sie nimmt sich die Wirtschafts- und Finanzpolitik der 27 EU-Länder vor und erteilt Ratschläge. "Länderspezifische Empfehlungen" nennt sie das. Heute ist es wieder so weit.
Von Martin Bohne, MDR-Hörfunkstudio Brüssel
Wenn die EU-Kommission heute die Wirtschafts- und Finanzpolitik aller 27 EU-Staaten bewertet und länderspezifische Empfehlungen ausspricht, richten sich die Blicke besonders auf Frankreich: Wird die EU-Kommission den neuen Präsidenten François Hollande herausfordern und ihn zu zusätzlichen Spar- und Reformschritten auffordern?
EU-Kommissionschef José Manuel Barroso kann sich dann so ein bisschen wie ein Schulmeister fühlen: Er verteilt an die ganze 27-köpfige EU-Klasse die Zeugnisse und gibt dann auch noch Hausaufgaben auf - für die guten Schüler weniger, für die schlechten Schüler mehr. Offiziell findet er dafür natürlich andere Worte: Die Kommission werde ihre länderspezifischen Empfehlungen vorlegen und damit die Herausforderungen benennen, die jedes einzelne Land bewältigen müsse.
Dabei geht es natürlich in erster Linie um den Abbau der Haushaltsdefizite. 2013 sollen die meisten EU-Staaten eigentlich wieder die im Stabilitätspakt verankerte Obergrenze von drei Prozent einhalten. Aber in Krisenstaaten wie Spanien, Portugal und Griechenland hat der strikte Sparkurs zu einem Konjunktureinbruch geführt. Die EU-Kommission muss nun entscheiden, ob sie diesen Ländern eine zeitliche Streckung der Defizitziele zugesteht.
Kommissionschef Barroso hatte in diesem Zusammenhang erneut einer intelligenten, wachstumsfreundlichen Anwendung des Stabilitätspakts das Wort geredet: "Die Kommission wird die Auswirkungen der straffen Haushaltspolitik auf das Wachstum und die öffentlichen Investitionen genau beobachten." Aber dabei werde man nicht vom grundsätzlichen Kurs der Konsolidierung abweichen.
EU-Kommission in der Rolle des Schiedsrichters
Besonders an den Handlungsempfehlungen für Frankreich wird sich zeigen, ob die EU-Kommission ihrer neuen Rolle als Schiedsrichter gewachsen ist - als Schiedsrichter, der die Mitglieder der Währungsunion ohne Rücksicht auf politische Befindlichkeiten zur Einhaltung der Spielregeln verdonnert. Auch Frankreich wird nämlich wegen schwacher Wirtschaftsdaten im nächsten Jahr seine Haushaltsziele wahrscheinlich verfehlen, nur will es die neue Regierung noch nicht wahrhaben.
Und schon gar nicht dürfte der neue Präsident über Ratschläge aus Brüssel erfreut sein, die Frankreich zu Reformen auf dem Arbeitsmarkt und bei der Wochen- und Lebensarbeitszeit drängen. Unbedingt befolgen müsste Hollande solche Ratschläge ohnehin nicht. Erstens können die Staats- und Regierungschefs auf dem nächsten Gipfel die Empfehlungen der Kommission noch abändern - es ist also viel Raum für politische Manöver. Und dann sind das eben auch nur Empfehlungen.
Auch der vermeintliche Musterschüler Deutschland schlug so manchen Ratschlag der Kommission aus dem vergangenen Jahr in den Wind: zum Beispiel die Abschaffung des Ehegattensplittungs, den zügigen Ausbau der Ganztagsbetreuung für Kinder oder die größere Durchlässigkeit im Bildungssystem. Insofern kann sich Barroso eben nur ein bisschen wie ein Schulmeister fühlen.