Vor dem EU-Gipfel in Brüssel Merkel spielt auf Risiko
Kanzlerin Merkel geht mit einer gewagten Position in den heutigen EU-Gipfel: Auf Druck von Frankreich ließ Merkel ihre Forderung nach automatischen Sanktionen gegen Defizitsünder fallen - zum Ärger einiger EU-Staaten. Nun setzt sie auf Änderungen am EU-Vertrag. Die Aussicht auf Erfolg ist ungewiss.
Von Markus Preiß, ARD-Studio Brüssel
Zwei Zeilen, vielleicht drei. Europa streitet heftig, doch glaubt man den berühmten Regierungskreisen in Berlin, dann ist nicht mehr nötig, um die deutschen Sorgen nach der Euro-Krise zu beruhigen. Deutschland fordert, ein Insolvenzrecht für Staaten in den Vertrag von Lissabon aufzunehmen: Private Gläubiger sollen mit zahlen, wenn wieder ein Land ähnlich Griechenland vor dem Bankrott steht. Um dafür die Grundlage zu schaffen, reiche ein einziger Satz in den Verträgen. "Aus wenigen Zeilen ist auch ein ganzer Binnenmarkt entstanden", ist aus Berlin zu hören.
Zwei simple Zeilen nur - und dennoch wird es für Bundeskanzlerin Angela Merkel eine mehr als schwere Aufgabe beim EU-Gipfel in Brüssel, für die deutsche Position Unterstützung zu organisieren. Zum einen, weil Änderungen der EU-Verträge nicht gerade beliebt sind, zu mühselig war die Verständigung auf den Vertragstext. Allen in Brüssel läuft es beim Wort "Lissabon" noch jetzt kalt den Rücken herunter.
Vor allem aber, weil Frankreich und Deutschland die Vertragsänderung quasi im Alleingang auf die Tagesordnung gesetzt haben - nach einem Vier-Augen-Gespräch von Merkel und dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy vergangene Woche im französischen Badeort Deauville.
Widerstand regelrecht provoziert
Dieses Vorgehen hat den Widerstand förmlich heraufbeschworen, unabhängig von der Sache. "Ich habe ein Problem damit, dass man mit dem dicken Hammer vorgeht", sagt Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn. "Wir [Deutschland und Frankreich] sagen, der Vertrag wird geändert und Ihr müsst gehorchen. Wenn Ihr es nicht macht, dann steigen wir aus, dann könnt Ihr sehen, was mit dem Euro geschieht." Von deutscher Hegemonie, von einem "Diktat" schreiben die Zeitungen in ganz Europa, und beides ist inakzeptabel für souveräne Staaten.
Die Bundesregierung glaubt trotzdem, dass ihr Anliegen über kurz oder lang Realität wird. Vor allem, weil der milliardenschwere Euro-Rettungsschirm nur bis 2013 besteht. Berlin hat klar gemacht, dass es danach nicht noch mal eine Vollkasko-Versicherung mit deutschen Steuergeldern einrichten werde. Stattdessen müsse die Insolvenzregelung her - sprich: ein geordnetes Verfahren dafür, wer wie viel Geld verliert, wenn wieder ein Land in Richtung Pleite steuert.
Trotzdem glauben viele europäische Länder, dass selbst mit dieser Regelung ein kleiner "Rettungsschirm" gespannt werden müsse, Geld für Notfälle quasi. "Ein Krisenmechanismus ohne Geld ist keiner", gibt auch ein deutscher Diplomat zu. Und da für Geld in Europa die Blicke immer nach Deutschland gehen, sitzt Berlin vielleicht am langen Hebel: Wir geben noch mal ein wenig, aber dafür kommt das Insolvenzrecht.
Angst vor einer Grundsatzdiskussion
Um die für einen solchen Schritt notwendigen, und auch bei nur zwei Zeilen mühseligen Vertragsänderungen anderen Ländern schmackhaft zu machen, seien zwei Dinge zu beachten, heißt es aus Regierungskreisen: Zum einen dürfe die Vertragsänderung nicht zu einer generellen Diskussion über die Arbeitsweisen in Europa werden. Nach dem Motto: Wenn wir den Vertrag in puncto Finanzen ändern, dann könnten wir auch über andere Bereiche sprechen.
"Die Büchse der Pandora muss zu bleiben", sagt ein Brüsseler Diplomat. "Sonst kommt jedes Land mit einer persönlichen Herzensangelegenheit." Die Vertragsänderung müsse auf den Punkt Insolvenzrecht begrenzt bleiben. Ein einziger Punkt wird hinzugefügt, alles andere bleibt gleich.
Der zweite wichtige Punkt: Die Vertragsänderung müsse so ausgestaltet werden, dass keine zusätzliche Macht nach Brüssel abgegeben wird. Zum einen wollen oder können das die Mitgliedsstaaten ohnehin nicht. Zum anderen ist nur dann eine einfache Ratifizierung des geänderten Vertrags in den nationalen Parlamenten möglich - ohne Volksabstimmungen und ohne eine Hängepartie wie beim Lissabon-Vertrag.
Nur Säbelrasseln aus Berlin?
Genau dieses Argument hilft auch bei der Einschätzung einer anderen deutschen Forderung: dem Entzug des Stimmrechts in der EU für notorische Schuldensünder. "Ich bin radikal dagegen“, äußerte sich Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker. Kleinere Länder fürchten, im Zweifel entmachtet werden zu können - während es niemand wagen werde, Deutschland oder Frankreich das Stimmrecht zu entziehen.
Doch Beobachter glauben, dass Deutschland nicht ernsthaft einen Stimmrechtsentzug fordert. Der bedeutete nämlich die Abgabe von Souveränität nach Brüssel. Eine einfache Vertragsänderung wäre dafür nicht mehr möglich. Stattdessen begänne der steinige Weg der Ratifizierung mit Volksabstimmungen in einigen Ländern.
Da Deutschland an einem solchen problematischen Prozess kein Interesse haben kann, darf man die Forderung nach Stimmrechtsentzug eher als Säbelrasseln verstehen. Zumal: Ein entmündigtes Land ist zwar bestraft - der Schuldenberg aber wird davon im Fall einer Krise auch nicht kleiner.
Wenig überzeugende Sanktionen
Durchgewunken wird auf dem Gipfel wohl der Bericht von EU-Ratspräsident Herman van Rompuy. In einer Task-Force hatte der in den vergangenen Monaten gemeinsam mit den Finanzministern ausgearbeitet, wie der bereits bestehende Euro-Stabilitätspakt verschärft werden könnte. Enttäuschend sei das Ergebnis, findet die EU-Kommission, aber auch stabilitätsorientierte Länder wie Schweden, Finnland oder die Niederlande.
Zwar schlägt van Rompuy frühzeitigere Strafen für Schuldensünder vor. Zwar soll Europa künftig auch die Wirtschaftspolitik der Länder überwachen. Zwar sollen die Haushalte der Mitgliedsstaaten schon vor der Verabschiedung kritisch analysiert werden. Zwar soll auch ein hoher Gesamtschuldenstand (und nicht nur die Neuverschuldung) künftig Strafen auslösen - und doch bleibt ein großes "Aber".
Scheu vor Strafmaßnahmen
Denn den Startschuss zu allen Sanktionen würden auch weiter die Mitgliedsstaaten geben. Sie müssen mit qualifizierter Mehrheit ein Verfahren gegen die Sünder einleiten - und genau das haben sie in der Vergangenheit nie getan.
Die EU-Kommission hatte ursprünglich vorgeschlagen, sie könne diese Strafen automatisch, etwa bei Überschreiten der Drei-Prozent-Defizitgrenze, in Kraft setzten. Genau das hatte Frankreich bekämpft. "Solche Entscheidungen kann man nicht nur Beamten überlassen", erklärte Frankreichs Finanzministerin Christine Lagarde mit Blick auf mögliche Milliarden-Bußgelder und blieb beim "non". Deutschland hingegen wollte lange Zeit automatische Sanktionen, knickte dann aber ein - um Frankreichs Unterstützung für die aus deutscher Sicht noch wichtigere Vertragsänderung zu gewinnen.
Mitstreiter vor den Kopf gestoßen
Das hat funktioniert, zugleich aber wurden so die deutschen Mitstreiter wie Schweden, Finnland, die Niederlande und Luxemburg verprellt. "Ich bin ein bisschen überrascht, dass wir keinen hundertprozentigen Rückhalt für Haushaltsdisziplin von Deutschland hatten. Wir hätten mehr erreichen können", sagte Schwedens Finanzminister Anders Borg. Und Luxemburgs Premier Juncker sah Deutschland sichtlich verärgert schon im Lager der Länder, die es mit ihrer Haushaltspolitik nicht so genau nehmen.
Die Ausgangslage ist also schwierig vor diesem Gipfel - und Deutschland spielt auf Risiko. Vertragsänderungen sind ungewiss. Aber der Stabilitätspakt wird erstmal nicht so scharf, wie man es sich nach der Griechenland-Krise in Deutschland erhofft hatte.
Abgeordnete müssen überzeugt werden
Doch egal was Merkel, Sarkozy, Juncker & Co. auf dem Gipfel beschließen: Einen Kontrahenten müssen sie noch überzeugen, den die Regierungschefs derzeit noch nicht recht auf der Rechnung zu haben scheinen: das EU-Parlament. Viele Abgeordnete wünschen sich genau wie die EU-Kommission schärfere Sanktionen.
Und auch wenn die Abgeordneten längst nicht so mächtig erscheinen wie die Regierungschefs - seit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags sind sie es. Sie müssen überzeugt werden. Spätestens, wenn aus den politischen Leitlinien des Gipfels ausgearbeitete Gesetze werden sollen.