Zentralbank startet Wertpapierkauf Was kann die EZB noch bewirken?
Mit voller Kraft stemmt sich die EZB gegen die drohende Deflation. Der Leitzins sinkt auf 0,05 Prozent, zudem sollen Milliarden in Kredite und Anleihen fließen - eine Vorstufe des berüchtigten "Quantitative Easing". Kann das gut gehen?
Der "Economist" brachte die Lage kürzlich auf den Punkt. Das Titelbild des Wirtschaftsmagazins zeigte ein leckgeschlagenes Papierschiff - doch drei der vier Passagiere hatten das dräuende Unglück noch gar nicht bemerkt. François Hollande schaute staatstragend aufs Meer hinaus, Angela Merkel blickte versonnen zu ihm herüber, und Matteo Renzi hielt, als gäbe es nichts Wichtigeres zu tun, ein Eis in der Hand.
Nur der vierte Passagier ganz hinten im Boot versuchte, bewaffnet mit einem Eimer, zu retten, was zu retten ist: Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank. Zu dem Bild dichtete der "Economist" die Zeile: "That sinking feeling (again)".
Ist es wirklich so schlimm? Droht die überwunden geglaubte Eurokrise zurückzukehren? EZB-Chef Draghi sieht es offenbar so. Darum hat er nun die nochmalige Senkung des Leitzinses auf nur noch 0,05 Prozent durchgesetzt - eine Entscheidung, die innerhalb des EZB-Rats umstritten war.
Zudem will die EZB sogenannte Kreditverbriefungen und Pfandbriefe kaufen. Das sind Bankanleihen, die mit Vermögenswerten unterlegt sind, beispielsweise Unternehmenskredite. Die EZB kauft den Banken also deren Forderungen ab und hofft, dass die Banken mit dem frischen Geld frische Kredite begeben. So soll die Wirtschaft wieder anspringen und die drohende Deflation (also ein Verfall der Preise) abgewendet werden.
Ob das funktioniert? Niemand weiß es. Und was Kritiker noch skeptischer macht: Draghi hält sich ausdrücklich die Option offen, noch viel mehr Wertpapiere zu kaufen - also zum Beispiel auch Staatsanleihen. "Quantitative Easing" wird ein solches Vorgehen im Fachjargon genannt - es wäre ein Experiment mit kaum absehbaren Folgen.
"Das letzte Aufbäumen der EZB gegen die Krise hat begonnen", meint Alexander Krüger, Volkswirt vom Bankhaus Lampe. "Ein breit angelegtes Wertpapierkaufprogramm ist nur eine Frage der Zeit. Es ist aber zu befürchten, dass diese Maßnahmen letztlich erst recht zu rezessiven Tendenzen führen."
Warum Draghis Deflationsangst begründet ist
Was auch Draghis Kritiker nicht bestreiten: Europas Wirtschaft befindet sich in der kniffligsten Phase seit dem Sommer 2012. Damals verhinderte der EZB-Chef eine Implosion der Eurozone mit seinem Versprechen, zur Not die Schulden der europäischen Krisenländer aufzukaufen. Die Lage an den Finanzmärkten beruhigte sich daraufhin. Und eine Zeitlang schien es sogar, als beginne Europa sich langsam, aber sicher von der schweren Krise zu erholen. Selbst im Süden wuchs - wenngleich auf niedrigem Niveau - die Wirtschaft wieder.
Von der zwischenzeitlichen Aufbruchstimmung ist allerdings nicht mehr viel zu spüren. Stattdessen malen die ökonomischen Daten der vergangenen Wochen ein ernüchterndes Bild vom Zustand der Eurozone. Frankreich und Italien stagnieren, in Deutschland schrumpfte die Wirtschaft im zweiten Quartal sogar leicht. Die Inflation im Euroraum betrug im August nur noch 0,3 Prozent. Das war der niedrigste Wert seit dem Horrorjahr 2009 - und ist meilenweit entfernt von der Zielmarke der EZB, die bei zwei Prozent liegt. Draghis Deflationsangst ist also begründet.
Eine weitere besorgniserregende Kennzahl: Laut der Finanzierungsberatung Barkow Consulting sind die Firmenkredite in der Eurozone in den vergangenen zwölf Monaten nochmals um 2,3 Prozent gesunken, in der Peripherie gar um 6,4 Prozent. Das heißt, die Unternehmen investieren zu wenig, kaufen kaum neue Maschinen, stellen kaum neue Mitarbeiter ein.
Alles in allem verfestigt sich so der Eindruck, der tiefen Krise könnte eine Phase der anhaltenden Lethargie folgen. "Japanische Verhältnisse, nennt das Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING Diba - in Anlehnung an die Wirtschaft Nippons, die nach einem verheerenden Finanzcrash in den 1990er-Jahren nie mehr richtig in Schwung gekommen ist.
Die EZB könnte das Zinsniveau weiter senken - doch hilft das?
Was folgt nun? Erstens: Die EZB könnte in den nächsten Monaten tatsächlich mit "Quantitative Easing" ("QE") beginnen. Das würde de facto bedeuten, dass die Notenbank noch einmal Unmengen an Geld druckt, das über die Finanzmärkte letztlich in der Realwirtschaft landen soll.
Zweitens: Angesichts der QE-Debatte ging zuletzt fast unter, dass die EZB Mitte September ein Programm startet, dass im Prinzip das gleiche Ziel verfolgt wie der nun beschlossene Kauf von Kreditverbriefungen und Pfandbriefen - nämlich Geld via Bankensektor in kleine und mittlere Firmen zu pumpen. Die Methode: Quasi zum Nulltarif können sich die Banken für vier Jahre Geld bei der EZB leihen, um es - auch dies eher eine vage Hoffnung - dann in die Kreditvergabe zu stecken.
Drittens will die EZB ebenfalls in den nächsten Wochen die Ergebnisse des Bankenstresstests publizieren. Dieser soll - Kritikern zufolge Jahre zu spät - offenlegen, wie viel Kapital der europäische Bankensektor noch benötigt, um die Finanzkrise von 2007 bis 2009 und die Eurokrise von 2010 bis 2012 endlich hinter sich zu lassen.
Im Best-Case-Szenario fallen die Resultate so positiv (und zugleich glaubwürdig) aus, dass die Investoren wieder Vertrauen in die Finanzbranche fassen. Doch der Worst Case? Könnte bedeuten, dass die Stresstest-Ergebnisse für neue Unsicherheit sorgen und die erhofften Effekte der beschlossenen Maßnahmen gleich wieder konterkarieren (mal ganz abgesehen von dem tendenziellen Widerspruch, die Banken einerseits sicherer machen zu wollen, sie aber andererseits in womöglich riskante Firmenkredite zu treiben).
Immerhin, die Investoren haben Draghis Signale verstanden
"Das Gute ist, dass die Eurozone anders als 2011 oder 2012 nicht mehr wirklich am Abgrund steht", sagt ING-Volkswirt Brzeski – "daran dürften auch die Ereignisse der nächsten Wochen wenig ändern." Doch, und das ist das Schlechte, "rasche Besserung ist nicht Sicht, unabhängig davon, ob Quantitative Easing nun kommt oder nicht". Mit anderen Worten: Die EZB stößt allmählich an ihre Grenzen.
Das habe, so Brzeski, auch damit zu tun, "dass Italien und Frankreich das Zeitfenster, das sich 2012 für Reformen aufgetan hat, nicht genutzt haben - der Arbeitsmarkt zum Beispiel ist noch immer viel zu starr." Die EZB könne zwar nun versuchen, mit Quantitative Easing die Zinsen noch weiter zu senken. "Aber dadurch wird die französische Automobilbranche nicht automatisch wettbewerbsfähiger."
Heißt das, die EZB betreibt Aktionismus - und sollte besser gar nichts tun? "Nein, das wäre fatalistisch, man darf die schwierigen Umstände ja nicht einfach akzeptieren", sagt Brzeski. Und dann zeichnet er ein Szenario, das zwar keine Wunder, aber zumindest ein wenig Erleichterung versprechen könnte:
"Vieles spricht dafür, dass Draghi die Spekulationen um QE vor allem deshalb schürt, weil er den Eurokurs drücken will." Der ökonomische Mechanismus dahinter: Wenn die EZB immer mehr Geld druckt, dann müsste das Geld eigentlich an Wert verlieren. Und der psychologische Mechanismus: Selbst wenn Draghi vom Gelddrucken vorerst nur redet, könnte dies Investoren schon jetzt dazu bewegen, statt in Euro lieber in andere Währungen zu investieren - was die europäische Einheitswährung und damit Europas Produkte verbilligen würden. Davon könnte die Exportindustrie zumindest kurzfristig profitieren. Allerdings, so Brzeski, "ist auch das vorerst nur eine vage Hoffnung".
Immerhin: Nach der EZB-Sitzung ist der Euro gleich mal um 1,5 Cent auf unter 1,30 Dollar gefallen - das erste Mal seit Juli vergangenen Jahres.