Analyse

350.000 Jobsuchende bis Ende 2016 Was Flüchtlinge für den Arbeitsmarkt bedeuten

Stand: 09.06.2016 13:25 Uhr

Bis Jahresende rechnet die Bundesagentur für Arbeit mit 350.000 Flüchtlingen auf dem Arbeitsmarkt. Wie viele von ihnen sofort Arbeit finden, ist für Experten nur schwer einzuschätzen. Ein großer Teil wird erst einmal arbeitslos sein - und Hartz IV beantragen.

Eine Analyse von Barbara Schmickler

Die Bundesagentur für Arbeit rechnet bis Ende des Jahres mit bis zu 350.000 Flüchtlingen, die dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. So die Prognose von Detlef Scheele, Vorstandsmitglied bei der Bundesagentur für Arbeit, auf Anfrage von tagesschau.de. Der Arbeitsmarkt ist derzeit in guter Verfassung, vor allem in den Dienstleistungsbranchen dürften in den kommenden Monaten weiterhin neue Arbeitsplätze entstehen. Auch Scheele geht davon aus, dass 350.000 Flüchtlinge für den deutschen Arbeitsmarkt rein quantitativ kein Problem seien. Denn jährlich entstehen rund 700.000 Arbeitsplätze neu. Auch die Nachfrage der Betriebe nach Flüchtlingen sei hoch, sagt Paul Ebsen von der Bundesagentur im Gespräch mit tagesschau.de.

Gerade die deutsche Wirtschaft wartet auf neue Fachkräfte. Mit der Flüchtlingskrise - so war einmal die Hoffnung - könnten neue qualifizierte Arbeitnehmer gefunden werden. Aber werden die Flüchtlinge tatsächlich das Fachkräfte-Problem lösen? Kurzfristig nein, vermuten Experten. Aber mittelfristig könnten die Flüchtlinge einen Beitrag leisten, sagt Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.

Viele Fragen zum Bildungsniveau

Wie viele schnell Arbeit finden werden, ist für Experten derzeit nur schwer abzuschätzen. Das liegt auch daran, dass über die Qualifikation der Flüchtlinge kaum etwas bekannt ist. Man sei dabei, ein Kompetenzerfassungssystem zu erarbeiten, sagte Scheele. Ein Teil der Flüchtlinge macht freiwillige Selbstangaben. Aus denen lässt sich ableiten, dass 46 Prozent der Flüchtlinge mit guter Bleibeperspektive eine Hochschule oder ein Gymnasium besucht haben, dass 25 Prozent nur in der Grundschule (sechs Jahre) oder gar nicht in der Schule waren. Ein Drittel der Flüchtlinge macht keine Angaben. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung schätzt, dass etwa 70 Prozent noch keine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Das Institut arbeitet gerade an einer repräsentativen Erhebung, Ergebnisse sollen noch in diesem Jahr präsentiert werden.

Damit die Integration schnell beginnen kann, müssten Asylverfahren schneller abgeschlossen werden und Sprach- und Integrationskurse noch zügiger anfangen. Es werde schon viel getan, aber einige Maßnahmen seien noch zu zäh, kritisiert Brücker. Flüchtlinge hätten eine hohe Arbeitsmotivation, wünschten sich einen schnellen Einstieg in den Job. Denn gerade über Arbeit funktioniere Integration.

Der Einstieg in den Beruf erfolge oft als Helfer. Doch daraus solle kein "einmal Helfer, immer Helfer" werden, so Scheele von der Bundesagentur für Arbeit. "Wir bemühen uns durch berufsbegleitende Fortbildungen einen Aufstieg zu organisieren." Ein Problem ist oft die schlechte Kenntnis der deutschen Sprache. Hier gebe es noch Nachholbedarf, kritisiert vor allem die Wirtschaft. "Wir brauchen mehr Maßnahmen, die Sprachkompetenz begleitend fördern", fordert Brücker gegenüber tagesschau.de.

Flüchtlinge mittelfristig als Fachkräfte

Gerade junge Flüchtlinge sollen eine ordentliche Ausbildung machen, die längerfristig Perspektiven bietet - und sich nicht nur auf Aushilfsjobs für schnelles Geld fokussieren. "Die Flüchtlinge haben ein hohes Potenzial, aber sie müssen auf Ausbildung oder Studium vorbereitet werden", sagt Brücker.

Die Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen: Die Flüchtlinge in den 1990er-Jahren hätten ein ähnlich schlechtes Ausbildungsniveau gehabt, sagt Brücker. Damals habe es etwa fünf Jahre gedauert, bis die Hälfte, 15 Jahre, bis 70 Prozent beschäftigt waren. Nur jeder Zehnte fand gleich im ersten Jahr eine Beschäftigung.

Eine Million bis 2019 erwartet

Erste aktuelle Zahlen zeigen, dass die Zahl der Arbeitslosen aus den Asylzugangsländern monatlich um rund 10.000 Menschen anstiegen, künftig rechnen Experten mit einem noch höheren Anstieg. Im Mai waren 145.000 Menschen aus nicht europäischen Ländern in Deutschland arbeitslos gemeldet. Die Zahl wird laut Bundesagentur für Arbeit weiter ansteigen, weil nicht jeder der 350.000 Arbeitssuchenden sofort einen Job oder eine Ausbildung finden wird. Denn anerkannte oder geduldete Asylbewerber dürfen Sozialleistungen beantragen. Schon im vergangenen Herbst hatte Arbeitsministerin Andrea Nahles gesagt, sie erwarte im Jahr 2016 zusätzliche Leistungsempfänger. Sie ging von etwa 240.000 bis 460.000 Menschen aus. Bis 2019 könnte diese Zahl dann auf eine Million ansteigen.

Doch auch die Zahl der sozialversicherungspflichtig arbeitenden Menschen aus den Hauptherkunftsländern der Flüchtlinge habe in einem Jahr um 20.000 zugenommen. "Man sieht schon, dass es gelingen kann, auch Menschen aus diesen Ländern in ungeförderte Beschäftigungen zu bringen", sagte Scheele gegenüber dem ARD-Hauptstadtstudio.

Nicht nur die Bundesagentur für Arbeit und die Arbeitgeber wollen Flüchtlinge möglichst schnell in Arbeit bringen. Auch die Politik hat ein großes Interesse daran, dass die Zahl der Hartz-IV-Empfänger nicht explodiert. Denn das könnte Parteien wie der AfD vor der Bundestagswahl neue Wahlkampfthemen bescheren.