Bilanz nach einem Jahr Was das Lieferkettengesetz gebracht hat
Ein Jahr Lieferkettengesetz: Die Bilanz der kontrollierenden Behörde fällt durchaus positiv aus. Und doch: Ein Blick auf Einzelfälle zeigt, dass längst nicht alles gut funktioniert.
Eigentlich müsste Torsten Safarik ein bekanntes Gesicht in Deutschland sein. Immerhin leitet er eine der wichtigsten Kontrollbehörden: Sein Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) genehmigt Waffenexporte, bewilligt jährlich Milliarden an Fördergeldern - und soll nun auch überprüfen, ob die deutsche Wirtschaft gegen Menschenrechtsverletzungen in ihren Lieferketten aktiv wird.
Denn seit dem 1. Januar 2023 gilt das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz für Großunternehmen mit mehr als 3.000 Beschäftigten. Sie müssen ihre Lieferketten systematisch durchleuchten und bei Verstößen wie Ausbeutung oder Zwangsarbeit versuchen, diese abzustellen.
Bisher keine Sanktionen
Nun zieht Safarik - durchaus zufrieden - nach knapp einem Jahr erstmals Bilanz: "Die deutschen Unternehmen sind vorbildhaft. Viele Unternehmen beschäftigen sich schon seit vielen Jahren mit diesem wichtigen Thema. Aber dem einen oder anderen muss man noch ein bisschen unter die Arme greifen."
Dabei verzichtet Safariks Amt bisher auf sein schärfstes Schwert: Die Verhängung von Bußgeldern oder den Ausschluss von öffentlichen Aufträgen. Kein einziges Unternehmen wurde seit Inkrafttreten des Gesetzes sanktioniert.
Teils erhebliche Defizite
Und doch scheint nicht alles so gut zu laufen, wie es auf den ersten Blick scheint. Eine aktuelle Studie, die rbb24-Recherche exklusiv vorliegt, attestiert den Unternehmen teilweise erhebliche Defizite bei der Umsetzung der Anforderungen des Lieferkettengesetzes. Die Studie wurde von der Nachhaltigkeitsfirma Integrity Next und dem Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME), dem alle großen DAX-Konzerne angehören, durchgeführt.
Insgesamt nahmen 244 Unternehmen an der Befragung teil. So hätten ein Viertel der Großunternehmen noch kein Risikomanagement aufgebaut - das eine systematische Analyse möglicher Gefahren für Menschenrechte erst möglich macht. Kommt es zu Menschenrechtsverstößen bei einem Zulieferer, haben 70 Prozent der Unternehmen erhebliche Probleme beim Versuch, diese zu beheben.
Probleme bei spanischem Gemüseproduzenten
Wie unterschiedlich deutsche Konzerne auf Vorwürfe gegen ihre Zulieferer reagieren, zeigt ein Beispiel aus dem spanischen Almería. Im Februar dieses Jahres berichtete rbb24-Recherche über unbezahlte Arbeit und mangelnden Arbeitsschutz in dem spanischen Ort. Im Fokus: Der Gemüseproduzent Biosabor, der zu dem Zeitpunkt Tomaten an Edeka, Rewe und Lidl liefert.
Das BAFA kontaktierte nach der Berichterstattung die drei Supermarktriesen - und die reagierten unterschiedlich. Rewe gab an, nach einer Prüfung keine "hinreichenden Anhaltspunkte dafür zu haben, dass die Vorwürfe zutreffend sind." Das BAFA sei dieser Auffassung gefolgt.
"Abbruch der Geschäftsbeziehungen"
Ganz anders Edeka: Nach "vielen intensiven und vertraulichen Gesprächen mit unterschiedlichen Partnern über sensible Inhalte" habe man "Maßnahmen bis hin zum Abbruch der Geschäftsbeziehungen in Bezug auf mittelbare Lieferanten eingeleitet." Auch mit dieser Vorgehensweise war das BAFA einverstanden.
Und Lidl wiederum erklärte, die Missstände untersucht und diverse Maßnahmen eingeleitet zu haben. Der Prozess laufe aber noch. Nach vorliegenden Informationen kontrollierte Lidl auch vor Ort bei Biosabor und kontaktierte Gewerkschaftsvertreter. Wie weitere rbb24-Recherchen ergaben, werden bei Biosabor nach wie vor Standards gebrochen: Ein Video zeigt, wie Arbeiterinnen und Arbeiter ungeschützt dem Versprühen von Pflanzenschutzmitteln ausgesetzt sind.
José García Cuevas von der Landarbeitergewerkschaft SOC-SAT aus Almeria zieht darum eine ernüchternde Bilanz: "Mehrere Monate nach den Veröffentlichungen und der Prüfung der Supermarktketten haben sich die Arbeitsbedingungen nicht substanziell verändert. Zwar ist das Gehalt leicht gestiegen, aber die wöchentliche Arbeitszeit übersteigt oft die gesetzlichen Vorschriften. Überstunden und Feiertagszuschläge werden nicht bezahlt, also wird insgesamt nicht der Mindestlohn gezahlt."
Das Gehalt hatte Biosabor bereits erhöht, bevor das BAFA aktiv wurde, woraus der Basisgewerkschafter schließt: "Das ist ein Erfolg des medialen und gewerkschaftlichen Drucks und nicht der von einer Behörde."
BAFA nicht konsequent genug?
Damit das Lieferkettengesetz seine Wirkung entfalte, müsste das BAFA mehr tun, meint Miriam Saage-Maaß, Chefjuristin bei der Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR): "Ich befürchte, dass das BAFA Unternehmen noch zu viel Raum gibt und sagt: Solange Unternehmen überhaupt irgendetwas in Bezug auf Menschenrechte in ihren Lieferketten tun, ist das ausreichend."
Doch die gesetzliche Grundlage für die Arbeit der Behörde ist eine ganz andere, erklärt die Juristin: "Das Lieferkettengesetz spricht ganz explizit davon, dass es um angemessene Maßnahmen der Abhilfe geht." Diese sollte das BAFA in Abstimmung mit den Betroffenen definieren und den Unternehmen entsprechend vorschreiben, so Saage-Maaß.
Fälle werden nicht öffentlich gemacht
Das ECCHR hat in diesem Jahr unter anderem wegen Zwangsarbeit bei chinesischen Automobilzulieferern, Sicherheitsmängeln in Textilfabriken in Bangladesch und Ausbeutung auf Bananenplantagen in Ecuador Beschwerde bei der BAFA eingereicht. Was dabei herausgekommen ist, weiß Saage-Maaß nicht. Denn das BAFA informiert grundsätzlich nicht über konkrete Fälle.
Öffentlich erklärt das BAFA lediglich, dass es im ersten Jahr des Gesetzes insgesamt 38 Beschwerden erhalten hat. Davon hat das BAFA bislang in sechs Fällen Kontakt zu Unternehmen aufgenommen. Chefkontrolleur Safarik stellt klar, worauf es beim Gesetz ankommt: "Das Ziel ist nicht, dass die Menschenrechtsverletzung abgestellt wird. Das Ziel ist, sich zu bemühen, sie abzustellen." Die Kontrollbehörde möchte - statt scharf zu sanktionieren - zunächst in einen Dialog mit den Firmen gehen, erklärt Safarik: "Wir verstehen uns als Partner der Unternehmen, um gemeinsam das Gesetz erfolgreich umzusetzen."
Ausweitung ab 2024
Dass viele Unternehmen noch mit der Umsetzung des Lieferkettengesetzes hadern, bestätigt Helena Melnikov, Hauptgeschäftsführerin des Wirtschaftsverbandes BME: "In einer Zeit der wirtschaftlichen Stagnation müssten die Firmen erst einmal auf die Weiterentwicklung ihrer Produkte schauen, auf Effizienz und Innovation." Doch dafür sei kaum Zeit: "Die Firmen befassen sich mit Berichten, überprüfen Risiken, schulen ihre Lieferanten, tragen alle Daten zusammen und bereiten sich für die Dokumentation gegenüber den Kontrollbehörden vor."
All das beschäftigt nun auch Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitenden, auf die das Lieferkettengesetz ab 2024 erweitert wird. Auch hier gibt es Schwierigkeiten: Laut der Studie des BME sehen sich erst 22 Prozent der mittelgroßen Unternehmen bei zentralen Anforderungen des Gesetzes gut beziehungszweise sehr gut aufgestellt.
Dabei sollten sich die Unternehmen beeilen. Denn erst kürzlich hat sich die EU auf eine europaweite Lieferkettenrichtlinie geeinigt. Die sieht vor, dass Unternehmen verklagt werden können, wenn sie sich nicht genug um Menschenrechte bei ihren Zulieferern bemühen. Betroffene wären dann nicht mehr allein auf das BAFA als Kontrollbehörde angewiesen.
In einer früheren Version des Textes hieß es, es hätten "40 Prozent der Großunternehmen nicht alle ihre direkten Lieferanten im Hinblick auf Nachhaltigkeitsstandards beurteilt". Diese Passage haben wir gestrichen. Ergänzt haben wir statt dessen, dass ein Viertel der Großunternehmen noch kein Risikomanagement aufgebaut haben.
Mehr zum Hintergrund dieser und anderer Korrekturen finden Sie hier: tagesschau.de/korrekturen