Tarifeinheitsgesetz Immer noch ein Fall für die Gerichte
Ein Betrieb - ein Tarifvertrag: Das war das Ziel des Tarifeinheitsgesetzes. Es sollte den Betriebsfrieden sichern. Stattdessen führte es zu jahrelangem Streit. Nun muss der Europäische Menschenrechtsgerichtshof entscheiden.
Was regelt das Tarifeinheitsgesetz?
Es gilt für die Situation, dass die Mitarbeitenden in einem Betrieb in unterschiedlichen Gewerkschaften organisiert sind - also zum Beispiel viele Lokführer in einer anderen Gewerkschaft sind als das restliche Zugpersonal. Können sich diese Gewerkschaften nicht auf einen einheitlichen Tarifvertrag mit dem Betrieb einigen, gilt nach dem Gesetz am Ende der Vertrag der Gewerkschaft, die in dem Unternehmen die meisten Mitglieder hat - egal aus welcher Berufsgruppe. Der Tarifvertrag der kleineren Gewerkschaft wird verdrängt.
Damit sollte verhindert werden, dass Betriebe lahmgelegt werden, weil auf den Streik der einen Gewerkschaft bereits der Streik der nächsten folgte. Die Gewerkschaften sollten sich stattdessen vorher zusammen an einen Tisch setzen und ihre Interessen abstimmen. Kritiker sahen in dem 2015 beschlossenen Gesetz vor allem den Versuch, die Streiks der Lokführergewerkschaft GDL zu stoppen, die 2014 den Bahnverkehr teils zum Erliegen gebracht hatten.
Was hat das Bundesverfassungsgericht dazu entschieden?
Unter anderen mehrere kleinere Gewerkschaften wie die GDL, die Pilotenvereinigung Cockpit und die Ärztegewerkschaft Marburger Bund hatten gegen das Gesetz Verfassungsbeschwerde eingelegt. Sie fürchteten um ihre Durchsetzungskraft. Aus ihrer Sicht verletzte die Regelung die Freiheit aus Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz, sich in Gewerkschaften zusammenzuschließen. Und auch das Recht von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, frei von staatlichen Eingriffen Tarifverträge zu schließen - Stichwort: Tarifautonomie.
Doch das Bundesverfassungsgericht kippte das Gesetz in seinem Urteil von 2017 nicht. Zwar greife die Regelung in die Koalitionsfreiheit ein, weil es die schwächere Gewerkschaft damit im Betrieb womöglich schwerer habe, Mitglieder zu werben und zu mobilisieren. Das Streikrecht sei aber nicht in Gefahr. Und der Gesetzgeber sei befugt, Strukturen zu schaffen, die einen fairen Ausgleich zwischen den Interessen aller Arbeitnehmer eines Betriebes hervorbringen, hieß es bei der Urteilsverkündung.
Im Ergebnis forderte das Bundesverfassungsgericht nur an einer Stelle Nachbesserungen zum Schutz kleiner Berufsgruppen. Ansonsten setzte es auf eine "restriktive Auslegung", um den Regelungen ihre "Schärfe" zu nehmen. Danach soll etwa die Tarifeinheit zur Disposition der Tarifvertragsparteien stehen. Das heißt, konkurrierende Gewerkschaften sollen mit dem Arbeitgeber vereinbaren können, das Gesetz unangewendet zu lassen.
Wurden solche Vereinbarungen geschlossen?
Ja. Der Marburger Bund vereinbarte im Dezember 2017 mit ver.di, gegenüber den Arbeitgebern jeweils zu fordern, dass der Tarifvertrag der jeweils anderen Gewerkschaft nicht verdrängt werde. Die beiden Gewerkschaften sicherten sich außerdem das Recht zu, für ihre Mitglieder tarifliche Regelungen zu treffen, die von den Bestimmungen des Tarifvertrags der anderen Gewerkschaft abweichen. "Trotzdem schwebt das Gesetz wie ein Damoklesschwert über uns", sagt Hans-Jörg Freese, Sprecher des Marburger Bunds. "Wir sind da immer von der anderen Gewerkschaft abhängig, und man weiß nie, wie sich die Dinge dort entwickeln."
Auch bei der Bahn hatte es eine Vereinbarung zwischen Konzern und GDL gegeben, der sicherstellte, dass auch die Tarifverträge der GDL angewendet werden, obwohl die Gewerkschaft nur in wenigen Bahnbetrieben die Mehrheit der Mitglieder stellt. Doch Ende 2020 lief die Vereinbarung aus.
Hat das Tarifeinheitsgesetz also in der Praxis gar keine Bedeutung?
Doch, hat es. "Es gibt einige betriebliche Konstellationen, wo eine Minderheitsgewerkschaft wegen des Gesetzes zu Tarifverhandlungen gar nicht erst anzutreten braucht", sagt Arbeitsrechtler Fabian Rödl von der Freien Universität Berlin. Außerdem sei nicht klar, wie sich Konflikte zwischen konkurrierenden Gewerkschaften weiter zuspitzen werden. "Das Potenzial ist da noch nicht ausgeschöpft. Was passiert, wenn Gesetz wirklich mal angewandt werden sollte und dann Mitglieder gezählt werden müssen? Es ist weiterhin ungeklärt, wie das funktionieren soll."
Ein Problem, das nun bei der Bahn relevant wird. Dort hat zwar die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) in den meisten der rund 300 Bahn-Betriebe die Mehrheit der Mitarbeiter. In gut 70 Betrieben sind die Mehrheitsverhältnisse zwischen EVG und GDL allerdings unklar.
Verstoß gegen Menschenrechtskonvention?
Unabhängig davon muss nun noch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entscheiden, ob das Tarifeinheitsgesetz gegen die Menschenrechtskonvention verstößt. Auch die garantiert nämlich in Artikel 11 das Recht, sich in Gewerkschaften zusammenzuschließen. Marburger Bund, die Lokführer-Gewerkschaft GDL und der Beamtenbund argumentieren, das Gesetz habe zur Folge, dass ihre Verhandlungsposition gegenüber Arbeitgebern geschwächt würde.
Arbeitsrechtler Rödl zeigt sich relativ skeptisch, dass der Gerichtshof das Tarifeinheitsgesetz beanstanden wird. "Es gibt zur Koalitionsfreiheit nicht viel Rechtsprechung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte." Er räume den Mitgliedstaaten in der Regel einen Spielraum ein. "Und es gibt andere Konventionsstaaten, die Gewerkschaften noch strenger regulieren, als das in Deutschland der Fall ist."