Personalnot in Großbritannien Das Brexit-Kalkül geht nicht auf
Die britische Regierung will erreichen, dass Arbeitgeber Stellen mit heimischen Arbeitskräften besetzen und höhere Löhne zahlen. Anzeichen für einen Lohnanstieg seit dem Brexit gibt es bislang aber noch nicht, wie eine Studie zeigt.
Britische Arbeitsmarktforscher führen einen Teil des akuten Personalmangels in Großbritannien auf den Brexit zurück. Das geht aus einer heute veröffentlichen Studie hervor. "Es gibt einige Belege dafür, dass das Ende der Arbeitnehmerfreizügigkeit zum Mangel in verschiedenen Bereichen des britischen Arbeitsmarktes beigetragen hat", sagte Arbeitsmarktforscher Chris Forde von der Universität Leeds, der gemeinsam mit Wissenschaftlern von der Universität Oxford die Brexit-Auswirkungen untersucht hat. Das sei jedoch nicht der einzige Faktor.
Andere Gründe für den Mangel sind der Studie zufolge die Pandemie und die Tatsache, dass viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich entschieden hätten, früher als üblich in den Ruhestand zu gehen. Hinzu kämen branchenspezifische Engpässe. Im vergangenen Jahr hat etwa ein Mangel an Lastwagenfahrern dafür gesorgt, dass Supermarktregale teilweise leer blieben und Tankstellen nicht mit Sprit versorgt werden konnten.
Es sei allerdings schwierig, die Auswirkungen des Endes der Freizügigkeit von anderen Besonderheiten des Arbeitsmarktes nach der Pandemie zu trennen, so die Forscher. Wenn Arbeitgeber Schwierigkeiten haben, genügend Personal zu rekrutieren, gebe es oft mehrere Faktoren, die zusammenkommen. Längerfristige Trends wie ein geringeres Lohnwachstum machten zum Beispiel einige Berufe unattraktiver.
Gastronomie mit Schwierigkeiten
Besonders in Bereichen wie der Gastronomie oder Logistik hätten sich britische Arbeitgeber früher stark auf Arbeitskräfte aus der EU verlassen, heißt es in der Untersuchung. Diese hätten nun große Schwierigkeiten, Stellen zu besetzen.
Die Zahl der Insolvenzen von Restaurants in Großbritannien ist im vergangenen Jahr um fast zwei Drittel (64 Prozent) angestiegen, wie das Wirtschaftsprüfungsunternehmen UHY Hacker Young jüngst in einer Auswertung analysierte. Meldeten im Jahr 2020/21 (bis zum 31. März) noch 856 Restaurants Insolvenz an, waren es im Folgejahr 1406.
Insbesondere kleinere Restaurants litten darunter, nicht mehr ohne weiteres Arbeitskräfte aus der EU einstellen zu können, sagte UHY-Partner Peter Kubik. "Viele finden einfach nicht genügend Angestellte, um so arbeiten zu können, dass sie profitabel bleiben."
Aufwändiges Verfahren für Visa
Mit dem Brexit ist die Freizügigkeit - also das Recht für EU-Bürger, in allen Ländern der Europäischen Union zu leben und zu arbeiten - in Großbritannien erloschen. Nun sind teure Visa notwendig, die vom Arbeitgeber gesponsert und in einem aufwendigen Verfahren beantragt werden müssen.
Das Einwanderungssystem nach dem Brexit habe den Zugang zum britischen Arbeitsmarkt für Nicht-EU-Bürger liberalisiert, zugleich sei aber die Visumpflicht für EU-Bürger eingeführt worden, die zuvor in jedem Beruf arbeiten konnten, schreiben die Forscher in der Untersuchung. "Das hat zur Folge, dass Niedriglohnberufe, die früher stark auf EU-Arbeitskräfte angewiesen waren, nun keine Arbeitsvisa mehr erhalten, mit einigen begrenzten Ausnahmen für Sozialbetreuer und Saisonarbeiter."
Geringere Produktion - nicht höhere Löhne
Die britische Regierung hat sich eine "hochqualifizierte Wirtschaft mit hohen Löhnen" zum Ziel gesetzt. Britische Arbeitgeber sollen Stellen mit heimischen Arbeitskräften besetzen und die Löhne erhöhen.
Bislang gebe es jedoch keine Anzeichen dafür, dass sich die Löhne seit dem Brexit signifikant erhöht hätten, lautet das Fazit der Forscher. Tatsächlich passten sich Arbeitgeber, die stark von EU-Beschäftigen abhängig waren, eher dadurch an, dass sie weniger produzieren oder Prozesse automatisieren. Einige Jobs - etwa in der Landwirtschaft - gingen nun stattdessen an Nicht-EU-Ausländer, allerdings sei das längst nicht für alle Betriebe eine geeignete Alternative.
"Obwohl klar ist, dass das Ende der Freizügigkeit es Arbeitgebern im Niedriglohnsektor schwieriger gemacht hat, passende Bewerber zu finden, bringen Änderungen an Einwanderungsgesetzen ihre eigenen Herausforderungen mit sich", sagt Madeleine Sumption, die an der Universität Oxford den Fachbereich zur Einwanderungsforschung leitet. Oft führten Visa-Programme in diesen Branchen zu Ausbeutung, außerdem seien sie schwierig zu regulieren.
Notenbank erwartet Inflation von über 13 Prozent
Die Folgen der anhaltend hohen Energiepreise und der weltweit eingetrübten Konjunkturlage belasten zunehmend die britische Wirtschaft. Im Frühjahr ist sie leicht geschrumpft. Von April bis Juni ging das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Vergleich zum Vorquartal um 0,1 Prozent zurück. Die Bank of England geht davon aus, dass das Land Ende des Jahres in eine Rezession abgleitet, die das gesamte nächste Jahr anhalten dürfte. Dies wäre die längste wirtschaftliche Schwächephase auf der Insel seit der Weltfinanzkrise.
Angetrieben von explodierenden Energiekosten und Lieferkettenproblemen waren die Verbraucherpreise in Großbritannien zuletzt um 9,4 Prozent gestiegen. Die britische Notenbank rechnet bis Ende des Jahres mit einer Teuerungsrate von über 13 Prozent. Die Währungshüter hatten im Kampf gegen die hohe Inflation jüngst den Leitzins ungewöhnlich kräftig um einen halben Prozentpunkt auf 1,75 Prozent angehoben.