Prozess nach Dammbruch Welche Verantwortung trägt der TÜV Süd?
Als 2019 in Brasilien der Damm einer Mine brach, starben mehr als 270 Menschen in einer Giftschlammlawine. Noch kurz zuvor hatte der TÜV Süd die Stabilität bescheinigt. Nun steht er vor Gericht.
Noch immer schaufeln Bagger und Bauarbeiter den Schlamm weg, und auf den riesigen, rotbraunen Erdmassen wirken sie auch heute noch klein wie Spielzeug-Fahrzeuge. Rundherum Baumstümpfe mit abgeknickten Ästen. Wenn Carmen Sandra Barbosa de Paula auf die Szene blickt, sieht sie eine klaffende Wunde, die nicht aufhört zu schmerzen: "Kriegsszenen" seien die Bilder, die sie mit jenem Tag verbinde. "Verzweifelte Menschen, Hubschrauber, die Leichen abtransportierten, Sirenen und Krankenwagen." Barbosa de Paula, 47, stämmiger Körperbau, aber eingefallene Schultern, steht auf einem Hügel und blickt auf die schlammige Schneise. Dort brach am 25. Januar 2019 das Rückhaltebecken der Eisenerzmine Córrego do Feijᾶo.
"Kein Unfall, sondern ein Verbrechen"
Überwachungskameras filmten die Katastrophe, es sind Bilder wie aus einem apokalyptischen Hollywoodstreifen: Um 12.28 Uhr reißt die Erde auf, gibt einfach nach, verschluckt alles um sich herum. Keine Sirene, kein Alarmsignal warnte die Arbeiter, die zu dieser Zeit Mittagspause machten. Die toxische Lawine wälzte über die Kantine und die Bürogebäude des Minenbetreibers Vale hinweg, umgeben von einer rotbraunen Staubwolke. Sie riss Hütten, Tiere, Hütten und Brücken mit sich, verseuchte den Fluss und damit das Trinkwasser Tausender Menschen. Es war die größte Bergbau-Katastrophe Brasiliens, mit mindestens 272 Toten. Darunter sechs Familienangehörige von Carmen Sandra Barbosa, Freunde, Nachbarn, Kollegen. "Wir vermissen sie jeden Tag", sagt sie. Was bleibt sind Fotos von strahlenden Menschen auf ihrem Handy und ihr Kampf gegen die Tränen, die Fassungslosigkeit, die Ohnmacht. Es sei kein Unfall gewesen, sagt Carmen Sandra dann bestimmt, sondern ein Verbrechen.
Zertifikat ein Todesurteil?
Verantwortlich dafür machen sie und andere Angehörige nicht nur den Minenbetreiber, Brasiliens größten Bergbaukonzern Vale, den wichtigsten Lieferanten für Eisenerz weltweit, sondern auch eines der angesehensten deutschen Unternehmen: den Münchner Prüfkonzern TÜV Süd. Denn das brasilianische Tochterunternehmen von TÜV Süd hatte den Damm nur vier Monate vor dem Bruch geprüft und als sicher befunden. Ohne dieses Stabilitätszertifikat hätte der Betrieb in der Mine eingestellt werden müssen. "Es war doch bekannt, dass der Damm Probleme hatte", sagt Carmen Sandra. "Trotz des Risikos ein Gutachten auszustellen, war ein Todesurteil."
Davon ist auch die Staatsanwaltschaft des Bundeslandes Minas Gerais überzeugt. Aus internen Mails gehe sowohl hervor, dass die Ingenieure von TÜV Süd in Brasilien wussten, dass der Damm die Stabilitätswerte nicht erfüllte, dass sie im engen Austausch mit einem TÜV-Manager aus Deutschland standen - und dass sie Konsequenzen des mächtigen Auftraggebers Vale fürchteten, sollte der Damm nicht zertifiziert werden. Dazu sei nach dem Stabilitätsgutachten des Staudamms ein Vertrag über damals mehr als zwei Millionen Euro abgeschlossen worden - für strukturelle Projekte. "Wir sehen diesen Vertrag als eine Belohnung für das rechtswidrige Gutachten", sagt Staatsanwalt William Coelho. "Es gab offenkundig Interessenkonflikte."
Deutsche Gründlichkeit oder Interessenkonflikte?
Das sind schwere Anschuldigungen gegen ein Unternehmen, das in der ganzen Welt für Unabhängigkeit, Integrität und deutsche Gründlichkeit steht. "Wir haben denen vertraut", sagt Barbosa. Der TÜV Süd sieht sich zu Unrecht angeklagt: "Der TÜV Süd ist davon überzeugt, dass ihn keine rechtliche Verantwortung, auch keine Mitverantwortung an diesem schrecklichen Unglück trifft. Damit möchten wir in keiner Weise das Leid der Opfer in Abrede stellen", so TÜV-Süd-Chefjustiziar Florian Stork im Interview mit der ARD in München. Die Prüfung des Damms sei ordnungsgemäß erfolgt, die Stabilitätsanalysen hätten den geltenden brasilianischen Regelungen und technischen Standards entsprochen. Zudem habe der Betreiber Vale seine Haftung anerkannt und auch bereits Entschädigung gezahlt.
Darüber soll nun das Landgericht in München entscheiden. Die Stadt Brumadinho, die seit dem Dammbruch wirtschaftlich nicht mehr auf die Beine kam, und Angehörige klagen auf Entschädigung und Schmerzensgeld. "Ein Urteil in Deutschland würde endlich Gerechtigkeit bringen", sagt Brumadinhos Bürgermeister Alvimar de Melo Barcelos, der extra nach München gereist ist. "Wir fordern eine gerechte Entschädigung für all die Zerstörung und das vergossene Blut."
Mehr als zwei Jahre nach dem folgenschweren Dammbruch steht vor Gericht die Frage im Mittelpunkt, ob der TÜV Süd zumindest eine Mitverantwortung trägt.
Hoffen auf die Justiz in Deutschland
Der Bergbaukonzern Vale hatte in einem gerichtlichen Vergleich mit dem brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais zwar fast sechs Milliarden Euro Entschädigung zugesagt, doch die Gemeinde Brumadinho habe bisher nur geringfügige Zahlungen erhalten, so der Anwalt der Kläger, Jan Erik Spangenberg. Auch die Opfer hätten bisher keine angemessene Entschädigung erhalten. Zudem mahlen die Mühlen der Justiz in Brasilien langsam, daher die Entscheidung zur Klage in Deutschland.
Doch es gehe dabei um weit mehr als die finanzielle Entschädigung: nämlich um die Frage, inwieweit Unternehmen für ihr Handeln im Ausland zur Verantwortung gezogen werden können. "Der Prozess könnte zum Präzedenzfall werden", so Spangenberg. Die Musterklage könnte zudem eine Klagewelle von mehr als 1000 Geschädigten nach sich ziehen, den Konzern mehrere Millionen kosten. Zunächst wird es in München aber wohl um Verfahrensfragen gehen. So ist noch umstritten, nach welcher Rechtsordnung überhaupt verhandelt werden soll.
An der rostrot angemalten Brücke, die über den Paraopeba, Brumadinhos nach wie vor verseuchten Fluss, führt, wehen 272 weiße Bänder mit 272 Namen von 272 Toten. Die Erinnerung ist in der Stadt überall präsent: "Unsere Gemeinde hier hat alles verloren", sagen Carmen Sandra Barbosa und ihr Mann Clenilson de Paula. Als eine der wenigen Familien sind sie in Córrego do Feijão, nahe Brumadinho, geblieben. In ihrem Garten bauen sie nun Bananen an, Kürbis, Avocado und Beeren. Das hilft gegen die traumatischen Bilder im Kopf, die Angstattacken und Depressionen, die immer wieder kommen. Sein Acker sei der einzige Ort, an dem er seinen Kopf frei machen könne, sagt Clenilson Barbosa de Paula, ehemaliger Mitarbeiter von Vale. "Pflanzen sind Leben, Menschen dagegen zerstören aus Profitgier." Trotzdem hofft er nun auf den Prozess in München und die Unabhängigkeit der deutschen Justiz.