Chip im Kopf Mit Hightech gegen Lähmungen
Ob durch Unfall oder Schlaganfall - Lähmungen erschweren das Leben sehr. Die Medizin ist dagegen bisher weitgehend machtlos. Hilfe verspricht Technik, die Gehirnströme direkt mit gelähmten Gliedmaßen verbindet.
Gelähmten wieder Bewegungen zu ermöglichen, ist ein alter Traum der Medizin. Jetzt bringt der technische Fortschritt neue Therapieformen hervor, die wie Science-Fiction anmuten: Exoskelette, die gelähmte Gliedmaßen von außen bewegen, werden immer raffinierter.
Und es gibt Ansätze, sie direkt über Gehirnströme zu steuern. Kürzlich wurde einem gelähmten Mann ein Chip ins Gehirn implantiert, über den er Smartphones und Computer bedienen kann. Die Technologie soll künftig auch motorische Funktionen wieder ermöglichen.
Hochgesteckte Ziele
Mit diesem Gehirnchip ist Anfang des Jahres die US-amerikanische Firma Neuralink des Unternehmers Elon Musk an die Öffentlichkeit gegangen. In Pressemeldungen hieß es, erstmals sei einem Menschen ein Chip ins Gehirn implantiert worden. Allerdings wird mit Gehirnimplantaten schon seit 2002 experimentiert. Neu ist der industrielle Ansatz, den Neuralink verfolgt.
Bis 2030 sollen 20.000 Menschen mit Gehirnimplantaten versorgt werden. Das hat für Surjo Soekadar, Psychiater und Neurotechnologe an der Berliner Charité, vor allem eine wirtschaftliche Dimension: "In der akademischen Forschung geht es darum, bei einzelnen Patienten zu zeigen, was möglich ist. Das wird praktisch jetzt skaliert durch ein Unternehmen, das rein kommerzielle Interessen hat."
Erster Gehirnchip in Europa
An der Universitätsklinik von Lausanne in der Schweiz wurde schon im letzten Jahr erstmals ein Gehirnchip implantiert, der einem Querschnitt-Gelähmten zumindest ansatzweise wieder Gehen ermöglicht. Dieser Chip überträgt Hirnsignale an einen weiteren Chip, der unterhalb der Verletzung am Rückenmark sitzt. Darüber gelangen Gehirnimpulse wieder an die Beinmuskeln. So kann der Niederländer Gert-Jan Oskam wieder Schritte machen. Von einem normalen Gehen ist das aber weit entfernt. Die aufwendige Technik kommt nur zu Trainingszwecken in der Rehabilitation zum Einsatz.
Für den Neurologen Volker Hömberg ist dieser Einzelfall dennoch ein Meilenstein: "Das ist ein gigantischer Fortschritt, weil man die Rückenmarkssteuerung mit einem komplett implantierten System hat, keine Kabel mehr außen." Aber es gebe natürlich Risiken wie Infektionen oder Blutungen durch die Implantation. Hömberg ist Präsident des Weltverbandes für Neurorehabilitation und überblickt die Entwicklung technischer Hilfen für gelähmte Menschen seit Jahrzehnten. In der klinischen Routine sieht er diese Technologie erst in 15 Jahren.
Exoskelette ermöglichen schon jetzt Bewegung
Ohne Chip im Gehirn funktionieren Exoskelette, die außen an gelähmten Gliedmaßen anliegen und sie über Motoren in Bewegung versetzen. Solche Geräte sind in manchen Fällen schon alltagstauglich, und sie haben zunehmende Bedeutung in der neurologischen Rehabilitation. Denn es ist ein physiotherapeutisches Grundprinzip, bei Lähmungen die natürlichen Bewegungen nachzuahmen. Dadurch entstehen im Gehirn neue Verschaltungen, Nervenzellen organisieren sich um.
So können Menschen zum Beispiel nach einem Schlaganfall verloren gegangene Fähigkeiten wieder zurückerlangen. Exoskelette ermöglichen dabei sehr viel höhere Wiederholungsfrequenzen als menschliche Physio- und Ergotherapeuten.
Gehirn-Computer-Schnittstellen
Einfache Exoskelette sind von außen gesteuert, zum Beispiel löst ein Knopfdruck einen Schritt aus. "Der nächste Schritt, der viel wichtigere Schritt, ist, die Prothese über Hirnaktivität, sprich Gedanken, zu steuern", sagt Volker Hömberg. Das Gehirnimplantat von Gert-Jan Oskam zeige, dass es im Prinzip funktioniere.
An der Berliner Charité erforscht Surjo Soekadar die Steuerung von Exoskeletten über Gehirnimpulse, die von außen durch die Schädeldecke abgeleitet werden. Sein Proband, Guido Schulze, hat ein Exoskelett an seiner linken Hand, und auf dem Kopf eine EEG-Haube, über die seine Gehirnströme gemessen werden. Seit es in seinem Gehirn bei einer Tumoroperation zu einer Blutung kam, ist seine Hand gelähmt. Jetzt kann er über seine Gedanken wieder Greifbewegungen auslösen.
Diese Erfahrung war für den heute 41-Jährigen beim ersten Mal überwältigend: "Zu der Zeit hatte ich null Kontrolle über meine Hand. Und dann habe ich versucht, die Hand zu schließen und auf einmal ging es los, dass die sich bewegt hat. Das waren so viele Glückshormone, das war Wahnsinn."
Training für das Zentralnervensystem
Dieses System ist komplex und alleine schon durch die notwendige EEG-Ableitung nicht für Alltagsanwendungen geeignet. Aber als Trainingswerkzeug ist es erprobt. "Unsere Studien haben ergeben, dass sich mit dem Einsatz dieser Schnittstellen bei Patienten, die gar keine Fingerbewegung mehr haben und bei denen keine anderen Therapieverfahren zur Verfügung stehen, mit hoher Wahrscheinlichkeit Hirnfunktionen und Handfunktionen wiederherstellen lassen", sagt Surjo Soekadar.
Diese Erfahrung hat Guido Schulze schon nach der ersten Sitzung mit dem System gemacht: "Das war faszinierend. Schon nach einer halben Stunde hat das Gehirn was gemerkt, da konnte ich die Hand selbst ein bisschen bewegen. Die ersten Ansätze waren da."
Fehlende Zertifizierung
Der Beweis, dass Gehirn-Computer-Schnittstellen in der Rehabilitation wirksam sind, ist erbracht. Aber dennoch kommen sie in der Klinik noch nicht zum Einsatz. Surjo Soekadar will das ändern: "So ein Training ist für Patienten, die nach einem Schlaganfall keine Fingerbewegung mehr haben, die einzige und beste Therapie, die es im Moment gibt. Aber sie wird nicht eingesetzt, weil sie nicht zertifiziert ist, weil das Personal nicht geschult ist."
Seine Arbeitsgruppe arbeite daran, die Technologie für Menschen, die sie benötigen, verfügbar zu machen. Hömberg ist optimistisch, dass sich solche Systeme weiterentwickeln lassen: "Der Stand ist gut und er geht stetig vorwärts. Wir wissen seit Jahrzehnten, dass das Gehirn sehr plastisch ist, sich selbst reorganisieren kann. Wir müssen nur die richtigen Schlüssel finden, um es ausreichend anzuregen, das zu tun."
Nur wenige profitieren
Aber er mahnt an, andere Strategien ebenfalls zu verfolgen. "Diese High-Tech-Sachen sind natürlich spektakulär und sicherlich auch hilfreich. Aber im Moment noch for the happy few. Das sind nur wenige, die davon profitieren." Wichtige Chancen sieht er in der Telekommunikation und der künstlichen Intelligenz. "Wir arbeiten im Moment daran, eine komplette Rehaklinik sozusagen im Metaverse zu emulieren. Patienten und Angehörige können damit Ärzte, Therapeuten oder Psychologen jederzeit fragen und bekommen vernünftige Antworten. Und Videos erklären, wie man was macht." So könnten alle vom technischen Fortschritt profitieren.