Psychologie Warum bipolare Störungen oft unerkannt bleiben
Mehr als zwei Millionen Menschen in Deutschland haben eine bipolare Störung. Sie erleben sowohl manische als auch depressive Krankheitsphasen. Bis zur richtigen Diagnose dauert es oft viele Jahre.
Menschen mit einer bipolaren affektiven Störung leiden extrem, nicht nur wenn sie eine depressive Episode erleben. Zwar sind sie in ihren manischen Phasen oft besonders energiegeladen, kreativ und charismatisch. Doch der psychische Ausnahmezustand ist eine riesige Last für Körper und Seele.
Überstürzte Handlungen haben manchmal fatale Folgen. Deshalb ist es entscheidend, dass die psychische Erkrankung schnell erkannt und richtig behandelt wird.
Frau B.: "Und ich dachte, bist du jetzt verrückt?"
Oft landen Betroffene erst mal in der Schublade "Depression" - oder sie werden gar nicht ernst genommen. So erging es auch Frau B., die jahrelang von Arzt zu Arzt geschickt wurde und hörte: "Stellen Sie sich nicht so an. Sie haben ja eigentlich gar nichts. Und ich dachte, bist du jetzt verrückt oder bist du meschugge? Du merkst doch selber, dass was mit dir nicht stimmt."
Diese Fälle kennt auch Moritz Wigand, Psychiater und Psychotherapeut. Er erklärt, die Erkrankung bipolare affektive Störung sei tatsächlich nicht immer leicht zu erkennen. Es dauere nicht selten fünf bis zehn Jahre von der ersten Episode bis zur korrekten Diagnosestellung. Die Gründe: Häufig beginnt die Erkrankung mit einer Depression, im weiteren Verlauf werden Symptome einer Manie oder Hypomanie (der milderen Variante) übersehen oder nicht gezielt erfragt.
Häufiger als angenommen
Lange dachte man, diese psychische Erkrankung sei sehr selten. Erst allmählich fällt auf, dass sich hinter so mancher Depression eine bipolare Störung verbirgt.
Psychiater und Psychologen schätzen, dass rund zwei bis drei Prozent der Bevölkerung im Verlauf ihres Lebens an einer bipolaren Störung erkranken. Die Dunkelziffer liegt durch nicht erkannte Erkrankungen möglicherweise höher.
Zwischen Hochgefühl und Hoffnungslosigkeit
Typisch für die Erkrankung sind starke Stimmungsschwankungen. Bianca Scholz, die als Psychotherapeutin täglich Menschen mit bipolarer Störung behandelt, spricht von Zuständen wie "himmelhoch-jauchzend bis zu Tode betrübt". Dabei erleben Betroffene die Extreme zweier Pole, daher auch der Name bi-polar. Ihre Gefühle pendeln phasisch zwischen extremer Niedergeschlagenheit, der Depression, und extremem Hochgefühl, der Manie. Die einzelnen Phasen wechseln sich ab und können Monate andauern, es kann aber auch zu sehr raschen Schwankungen oder Mischformen der beiden Pole kommen.
Betroffene wie Frau B. merken, dass sie sich verändert verhalten und erleben es selbst als sehr belastend: "Ich habe mich geschämt - und dass das zu dieser Krankheit dazugehört und dass das eigentlich nicht ich bin, sondern halt meine Krankheit, das habe ich nicht so gesehen."
Am Anfang steht oft die Depression
Meist beginnt es mit der Depression. Die Betroffenen sind traurig oder ängstlich, manchmal fühlen sie sich leer, können keine Freude oder Hoffnung empfinden, grübeln und zweifeln viel, sind unruhig, machen sich Sorgen und sind dabei oft passiv oder erschöpft.
Während einer manischen Phase hingegen kommt es vor, dass sie extrem euphorisch sind, übertrieben heiter und ungeduldig bis gereizt. Häufig haben sie Energie ohne Ende, brauchen kaum Schlaf, überschätzen sich selbst, kennen keine Grenzen und neigen zu unüberlegten Entscheidungen wie etwa zu hohen Geldausgaben. Sie wirken als schillernde, kreative, charismatische Persönlichkeiten, allerdings kann auch ein Größenwahn Teil der Symptomatik sein.
In manischen Phasen sehr kreativ und leistungsfähig
Eine bipolare Störung kann bei Menschen viel kreatives Potenzial freisetzen, zu großem Erfolg führen und gleichzeitig sehr belastend sein, weil sie wichtige Lebensentscheidungen und Beziehungen zur Familie, zu Freunden und Kollegen beeinflusst. Manchmal hat gerade die Manie schwerwiegenden Folgen, zum Beispiel Arbeitslosigkeit oder Insolvenz bis hin zu Unfällen oder Suizid.
Es sei in vielen Fällen eine schwere psychische Erkrankung, die viel Leid auslösen kann, sagt Psychiater Wigand. Sie könne zu einem sozialen Abstieg führen und dazu, dass Familien auseinanderbrechen.
Fließende Übergänge und Mischformen
Nicht alle Fälle haben diese extremen Folgen. Die Medizin geht inzwischen davon aus, dass es nicht die eine Krankheit bipolare Störung gibt, sondern unterschiedliche Ausprägungen der Symptome.
In der psychiatrischen Forschung und in aktuellen Diagnoseleitlinien betont man laut Wigand nicht mehr die klare Abgrenzung zwischen verschiedenen Diagnosen, sondern beschreibt vielmehr fließende Übergänge zwischen gesunden Menschen, leichteren und schwereren Verlaufsformen und auch zwischen unterschiedlichen psychischen Erkrankungen.
Geht man von diesem erweiterten Spektrum inklusive leichterer Verlaufsformen aus, sind sogar fünf Prozent aller Deutschen betroffen.
Ursachen noch nicht geklärt
Die Ursachen für eine bipolare Störung kennen Ärzte und Wissenschaftler noch nicht genau. Sie wissen nur: Genetik spielt eine Rolle, Stress, ein mögliches früheres Trauma, die Lebensweise und soziale Faktoren.
Für die Diagnosestellung sind ausführliche Gespräche beim Facharzt entscheidend. Die Befragung von Angehörigen kann wichtige Hinweise geben, auch um den Verlauf der verschiedenen Episoden zu erfassen. Wichtig ist, dass körperliche Ursachen, wie ein Gehirntumor, ausgeschlossen werden. Ein Test wie zum Beispiel der Mood Disorder Questionnaire (MDQ) kann bei der Diagnosestellung helfen, eine ausführliche Diagnostik aber keinesfalls ersetzen.
Therapie mit drei Säulen
Die Therapie einer bipolaren Störung beinhaltet die medikamentöse und die psychotherapeutische Behandlung sowie eine soziale Unterstützung, bestenfalls unter Einbeziehung der Angehörigen. Ziel der Behandlung sei es, die Stimmung zu stabilisieren, damit weder schwere depressive Episoden noch Manien auftreten, so Psychotherapeut Wigand.
Ein sehr alt erprobtes Medikament, das stimmungsstabilisierend wirkt, sei dabei Lithium, das Ärzte immer noch verschreiben. Es gebe aber auch neuere Medikamente mit stimmungsstabilisierender Wirkung, die man ursprünglich zur Behandlung der Epilepsie oder der Schizophrenie entwickelt habe.
Eine Behandlung kann nur erfolgreich sein, wenn die Diagnose gesichert ist. Wird fälschlicherweise "nur" antidepressiv behandelt, ist die Therapie weniger erfolgreich und das Leid wird verlängert. Vor allem erhöht man das Risiko eines Umschlagens in die Manie. Mit einer guten, umfassenden Therapie lässt sich jedoch die Lebensqualität deutlich verbessern. Die Einbindung von Angehörigen, praktische Informationen und die Vernetzung mit anderen Betroffenen können dabei sehr hilfreich sein.