Sportmedizin Kopfverletzungen beim Fußball oft unterschätzt
Kopfverletzungen beim Fußball können schwere Folgen haben, nicht immer aber wird die Schwere der Verletzung auf dem Spielfeld erkannt. Mediziner fordern einen besseren Schutz von Spielern.
Zum Auftakt der Bundesliga an diesem Wochenende ist die in Deutschland gespielte Europameisterschaft schon wieder Fußball-Geschichte. Manche Momente aber bleiben - wie die schwere Kopfverletzung des Ungarn Barnabas Varga nach einem Zusammenprall mit dem schottischen Torwart Angus Gunn im Vorrundenspiel zwischen Ungarn und Schottland.
Der Unfall war und ist Anlass, erneut die Sinne zu schärfen für die Gefahren von Schädel-Traumata im Fußball.
Unterschiedliche Schweregrade bei Kopfverletzungen
"Am häufigsten tritt das leichte Schädel-Hirn-Trauma auf. Das betrifft 80 Prozent der Kopfverletzungen", sagt Andreas Max Eidenmüller, Neuropsychologe in Würzburg. Mögliche Konsequenzen sind verlangsamte Reaktion und eingeschränkte Koordination. Daneben werden Kopfschmerzen, Koordinationsschwierigkeiten und Gleichgewichtsprobleme beobachtet. Auch Verhaltensveränderungen können die Folge sein.
Drei-Minuten-Regel wird zu selten angewendet
Für eine erste Diagnose am Spielfeldrand, ein neurologisches Grobscreening, können die Schiedsrichter der ersten und zweiten Liga das Spiel für maximal drei Minuten unterbrechen. Doch diese Option wird nach Ansicht von Andreas Max Eidenmüller nicht ausreichend genutzt. "Was die Fußball-Bundesliga angeht, da könnte die sogenannte Drei-Minuten-Regel stärker umgesetzt werden", sagt der Neuropsychologe.
Doch eigentlich hält Eidenmüller eine längere Behandlungspause für wünschenswert. Ähnlich wie im Basketball, Handball oder Eishockey sei es sinnvoll, "einen Sportler, der vermeintlich eine leichte traumatische Gehirnverletzung erlitten hat, temporär aus dem Spiel zu nehmen, um ihn in Ruhe in der Kabine vielleicht zehn, 15, oder auch 20 Minuten zu untersuchen."
Gefahr durch "Second Impact"
Noch unterschätzt wird möglicherweise der "Second Impact", der zweite Schlag gegen den Kopf, noch bevor der Körper die neurologischen Folgen eines ersten Traumas verarbeitet hat. "In der Wissenschaft wird diskutiert, ob die Auswirkungen der zweiten Kopfverletzung deutlich schwerer sein könnten als ohne die erste Verletzung, weil die Auswirkungen sozusagen kumulieren", sagt Eidenmüller.
Viele medizinische Betreuer hätten mittlerweile Listen mit der Historie der Kopfverletzungen jedes Sportlers. Betroffene würden als sogenannte Risikosportler eingestuft, mit denen in der Folge besonders vorsichtig umgegangen werde.
Nicht zu verwechseln mit dem "Second Impact" allerdings ist das "Second Impact-Syndrom": In sehr seltenen Fällen könnte eine lebensbedrohliche Gehirnschwellung auftreten, die je nach Variante sehr schnell tödlich verlaufen kann.
Prophylaktische Auswechslung noch kein Thema
Einen Spieler auch ohne Symptomatik prophylaktisch auszuwechseln, etwa nach einem Kopftreffer durch einen mit mehr als 100 km/h getretenen Freistoß oder durch einen harten Schuss, wie es manche vorschlagen, sei derzeit keine wissenschaftliche Empfehlung, sagt Eidenmüller. "Die individuellen Auslöseschwellen können sehr unterschiedlich sein." Es komme auch darauf an, ob der Spieler, den der Ball trifft, damit rechne oder nicht. "Wenn er damit rechnet, ist es so, dass er reflektorisch Hals-Nackenmuskulatur anspannen kann und dadurch den Aufprall deutlich besser kompensieren kann."
Baseline-Untersuchungen zur Vorsorge
In mittlerweile verbreiteten Baseline-Untersuchungen testet das Medizin-Personal schon vor der Saison die kognitiven und reaktiven Fähigkeiten der Profis. Im Verletzungsfall können die Daten dann abgeglichen werden.
Biomarker werden erforscht
Ein akutes Schädel-Hirn-Trauma durch Biomarker im Blut oder im Speichel schon am Spielfeldrand schnell zu erkennen, sei derzeit noch nicht möglich. Verfügbare Schnelltests sind immer noch zu langsam und zu ungenau, so Eidenmüller.
Australische Forschende haben allerdings in einer Langzeitstudie mit Australian Football-Spielern zwei Proteinbiomarker untersucht, die für den Wiedereinstieg eines verletzten Sportlers relevant sind. Das Protein Glial Fibrillary Acidic Protein (GFAP) war nach dem Trauma 24 Stunden und über einen Zeitraum von bis zu vier Wochen nachweisbar.
Das zweite Protein, Neurofilament Light (NfL) zeigt sich erst nach einer Woche mit erhöhten Werten auffällig, blieb aber dann bis zu 12 Wochen lang erhöht. Erst nachdem diese beiden Biomarker wieder normale Werte zeigen, wird ein Trainingsstart empfohlen. Sobald auf der Basis dieser Ergebnisse ein Bluttest zugelassen wird, könnte dieser auch im Fußball eingesetzt werden.
Club-Ärzte aus der Verantwortung nehmen
Andreas Max Eidenmüller hat noch einen weiteren Vorschlag: Die Entscheidung, einen am Kopf verletzten Spieler vom Feld zu nehmen, sollten nicht länger die Club-Ärzte, sondern unabhängige Mediziner und Neuropsychologen treffen.