Leben mit Long Covid Das unterschätzte Phänomen
Werde ich jemals in mein gewohntes Leben zurückkehren können? Das fragen sich viele, die noch Monate nach ihrer Corona-Erkrankung an Spät- und Langzeitfolgen leiden - oft mit Folgen in ihrem Job.
Auftanken und Abschalten, dafür nutzt Sigrid - ihren vollen Namen will sie nicht nennen - normalerweise die Streifzüge mit ihrem Hund durch den Berliner Grunewald. Doch in diesem Frühling werden die Spaziergänge für sie immer mehr zu einer Strapaze. Vor einem Jahr erkrankte die 52-Jährige an Corona. An den Spätfolgen leidet sie immer noch: Sie ist schnell erschöpft, es fällt ihr schwer sich zu konzentrieren, Worte fallen ihr nicht ein, und Gedanken gehen verloren.
Arbeitgeber reagiert mit Unverständnis
Trotzdem ist Sigrid vor ein paar Wochen an ihren Schreibtisch in einem Büro zurückgekehrt. Das Arbeiten fällt ihr schwer. Sie schafft ihr Pensum nicht, anders als vor ihrer Corona-Infektion. Ihre Vorgesetzten hat Sigrid um Versetzung gebeten - auf eine andere Stelle mit weniger Belastung.
Sie sei auf Unverständnis gestoßen, sagt Sigrid, als sie ihrem Arbeitgeber nach drei Monaten Krankheit mitgeteilt habe, sie wisse nicht, wie lange sie noch arbeitsunfähig sein werde. Das habe sie noch mehr verunsichert, gesteht die Berlinerin - dabei seien ihre Sorgen doch schon groß genug, ob sie jemals in ihr altes Leben zurückfinden werde.
Zu früh in den Job zurückzukehren, ist riskant
Der Arbeitsrechtler Alexander Bredereck rät in solchen Fällen, man solle besser seine Leistungsfähigkeit von einem Arzt überprüfen und sich im Zweifel weiter arbeitsunfähig schreiben lassen - "bevor ich bei der Arbeit Fehler mache und eine Abmahnung riskiere - und im Wiederholungsfall vielleicht die Kündigung", so der Experte.
Wegen lang andauernder Arbeitsunfähigkeit gekündigt zu werden, da seien die Hürden sehr hoch, sagt der Anwalt. Eine wichtige Rolle spiele dabei die Prognose über den weiteren Krankheitsverlauf und die Chancen des Arbeitnehmers auf Genesung. Hier sei es noch sehr schwierig, eine Aussage zu treffen, so Bredereck - bei einer Erkrankung wie Long Covid, über die bisher so wenig bekannt sei.
WHO: Bis zu jeder zehnte Infizierte mit Langzeitfolgen
Mehr als 3,5 Millionen Menschen in Deutschland haben sich nach Zählung des Robert Koch-Instituts (RKI) bislang nachweislich mit SARS-CoV-2 infiziert. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass bei jedem zehnten Corona-Patienten Langzeit- und Spätfolgen auftreten könnten. Bundesweit wären das also 350.000 potenzielle Betroffene.
Wie viele Menschen im Moment tatsächlich an Long Covid leiden, kann die Bundesregierung nicht sagen. Derzeit würden aber verschiedene Studien gefördert, in deren Rahmen Erkenntnisse zu Spät- und Langzeitfolgen einer Covid-19-Erkrankung zu erwarten seien - so lautet die jüngste Formulierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen im Bundestag. Bisher wird Long Covid auch noch nicht als einheitliches Krankheitsbild beim RKI erfasst.
"Noch nicht die Akzeptanz, die es bräuchte"
"Es kristallisiert sich zunehmend heraus, dass sich auch wissenschaftlich mit dem Thema auseinandergesetzt wird. Es gibt Leitlinien von verschiedenen Organisationen, aber es ist leider oft noch so, dass das Krankheitsbild Post Covid oder auch Long Covid noch nicht die Akzeptanz hat, die es eigentlich bräuchte", fasst die Pneumologin Jördis Frommhold von der Median-Klinik in Heiligendamm die gegenwärtige Situation in einem RBB-Interview zusammen.
Sie behandelt seit geraumer Zeit Long-Covid-Patienten. Wegen der unterschiedlichen Symptome - sowohl der körperlichen wie Atembeschwerden, anhaltender Erschöpfung (Fatigue), Kopfschmerzen, als auch der psychischen wie Konzentrations- und Gedächtnisschwäche - sind Behandlung und Therapie oft schwierig, langwierig und auch teuer.
Unsicherheit auch für Arbeitgeber
Langwierige Krankheiten sind nicht nur für die Betroffenen ein großes Problem. Sie leiden und sorgen sich um ihre Genesung, um ihre Zukunft und damit auch um ihren Job. Es trifft auch die Arbeitgeber. Der hat Verluste, wenn Beschäftigte lange krankheitsbedingt fehlen - und zusätzlich eine gewisse Unsicherheit, wenn nicht feststeht, ob und wann diejenigen zurückkehren werden.
Zur besseren Absicherung von Long-Covid-Erkrankten unterstützt Die Linke eine Forderung von Gewerkschaften, die Spät- und Langzeitfolgen einer Corona-Infektion generell als Berufskrankheit anzuerkennen. Das hätte mehr Unterstützung bei der Behandlung, der Reha und später auch der Rente zur Folge. Laut Verband der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) ist hier unter anderem ein erhöhtes Infektionsrisiko maßgeblich. Auch muss nachgewiesen werden, dass die Infektion am Arbeitsplatz oder auf dem Weg dahin erfolgt ist. Das macht es für Beschäftigte im Homeoffice etwa schwierig.
Long Covid als anerkannte Berufskrankheit?
Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di will die Anerkennung von Corona als Berufskrankheit für alle Berufsgruppen vereinfachen. Warum soll das nicht auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Handel gelten oder in der Logistikbranche, für Zustellerinnen und Zustellern oder im Bildungsbereich, fragt Katrin Willnecker, Gesundheitsschutzreferentin bei ver.di. Auch die hätten ein erhöhtes Infektionsrisiko bei ihren Tätigkeiten, nicht nur etwa Beschäftigte aus dem Gesundheitssektor. Hier sei der Gesetzgeber gefordert.
Seit Pandemiebeginn haben die Unfallkassen rund 102.000 Mal den Verdacht auf Berufskrankheit und mehr als 17.000 mal einen Arbeitsunfall im Zusammenhang mit Covid-19 gemeldet bekommen. Bei der Krankheit haben sie 59 und bei den Unfällen 32 Prozent der Fälle anerkannt.
Mehr Long-Covid-Ambulanzen
Dass die Corona-Langzeitfolgen langsam auch als ein gesellschaftlichen Problem gesehen werden, zeigt sich neben einer intensiveren Forschung auch daran, dass bundesweit Long-Covid-Ambulanzen als Anlaufstellen für Erkrankte eingerichtet werden. Entsprechende Forderungen nach mehr Therapiemöglichkeiten und Forschungsgeldern hat neben der Linken auch die FDP im Bundestag erhoben.
Viele, die an Long Covid leiden, suchen vermehrt Rat und seelische Unterstützung in Selbsthilfegruppen. Auch Sigrid tauscht sich regelmäßig online mit anderen Betroffenen aus. Das helfe ihr sehr, sagt die Berlinerin.