Extrem geringe Ausdehnung Warum hat die Antarktis so wenig Eis?
Die Antarktis hat aktuell so wenig Meereis wie nie zuvor. Es fehlt eine Fläche etwa siebenmal so groß wie Deutschland. Was sind die Gründe? Und welche Folgen hat das für die Lebewesen am Südpol?
Über Jahrzehnte schien es, als würde die Antarktis dem Trend der Erderwärmung trotzen: Während in der Arktis seit Jahren immer weniger Eis gemessen wird, nahmen die Mengen am Südpol sogar leicht zu. Doch seit wenigen Jahren gibt es auch in der Antarktis eine andere Entwicklung: Die Ausdehnung des Meereises liegt seit etwa 2016 meist unter dem langjährigen Durchschnitt. Und derzeit ist sie gering wie noch nie zu dieser Jahreszeit seit Beginn der Satellitenmessungen Ende der 1970er-Jahre.
Am 4. Juli 2023 waren nur 12,3 Millionen Quadratkilometer der Antarktis mit Eis bedeckt. Das sind rund 2,7 Millionen Quadratkilometer weniger als im langjährigen Mittel von 1981 bis 2010. Zum Vergleich: Die Fläche, die fehlt, entspricht ungefähr der siebenfachen Fläche Deutschlands. Das geht aus Daten des National Snow and Ice Data Center an der US-Universität von Boulder, Colorado hervor. Es ist allerdings nicht so, dass Eis schmilzt - es bildet sich einfach weniger.
Langfristiger Trend oder kurze Schwankung?
"Schon im vergangenen Jahr war die Eisfläche so klein wie nie. Dass dieser Wert nun unterschritten wird, ist schon besorgniserregend", sagt Klaus Grosfeld vom Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Der Forscher betont jedoch, dass es zu früh sei, um von einem Trend zu sprechen. Noch sei nicht klar, ob es sich um eine dauerhafte Veränderung im regionalen Klima handelt oder nur um eine kurzzeitige Schwankung. Um das herauszufinden, hat das AWI eine neue Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die den Veränderungen im antarktischen Eis auf den Grund gehen soll.
Denn die genauen Gründe für die Anomalie geben den Wissenschaftlern Rätsel auf. Eine mögliche Erklärung sind die ungewöhnlich hohen Lufttemperaturen: "In manchen Regionen liegen sie sechs Grad über dem langjährigen Durchschnitt", erklärt Grosfeld. Was wiederum diese starken Abweichungen verursacht, könne komplexe Ursachen haben und sei regional sehr unterschiedlich - so ist es in der Amundsensee rund sechs Grad kälter als im Durchschnitt.
Auch die Eisausdehnung ist an verschiedenen Stellen unterschiedlich: Vor allem im Weddellmeer in der Bellingshausensee ist deutlich weniger Meereis vorhanden, während in der Amundsensee und im westlichen Rossmeer eine leichte Zunahme der Eisbedeckung zu verzeichnen ist.
Die weiße Fläche zeigt die aktuelle Ausdehnung des Meereises, die türkise Linie die mittlere Ausdehnung der Jahre 1981 bis 2010. Die Werte des Meereisportals des AWI weichen leicht von denen des NSIDC ab.
Winde als Einflussfaktor
Ein Aspekt, der sowohl für die Temperaturen als auch für den Eisrückgang eine Rolle spielt, ist die Windzirkulation. "In den letzten Jahren hat sich häufig ein sehr stabiles Tiefdruckgebiet westlich der antarktischen Halbinsel eingestellt. Das führt dazu, dass das Eis, das sich etwa in der Bellingshausensee bildet, von dort weg auf den offenen Ozean driftet. Und das wird als ein möglicher Grund genannt, dass sich dort keine kompakte Meereisdecke bildet", so Grosfeld.
Die Winde haben aber auch Einfluss auf die Meeresströmung, sagt Johannes Feldmann, Glaziologe am Potsdam Institut für Klimafolgenforschung. Die Wassermassen im Südmeer sind normalerweise stark geschichtet. Das tiefere Wasser hat einen höheren Salzgehalt und ist wärmer als das Oberflächenwasser. Doch wenn lange starke Westwinde vorherrschen, kann wärmeres Wasser an die Oberfläche gelangen - und dort die Bildung von Eis verhindern, so eine Hypothese.
Meereis als Schutz für Gletscher an Land
Zumindest auf den Meeresspiegel hat das aktuelle Phänomen keine Folgen - denn Meereis bildet sich ja aus und befindet sich auf Meerwasser. Allerdings hat das Meereis auch eine Schutzfunktion für die Eismassen über dem antarktischen Festland. Es schützt dieses vor der Meeresbrandung und Erosion. Denn anders als in der Arktis ist die Antarktis ein Kontinent mit fester Landmasse. Wenn es weniger Meereis gibt, so Feldmann, sei auch das Eis auf dem Kontinent betroffen.
Dabei geht es etwa um die Gletscher, die vom Land in den Ozean ragen. Sie könnten instabiler werden, wenn es weniger Meereis gibt. Und diese Eismassen wiederum lassen, wenn sie verloren gehen, den Meeresspiegel ansteigen. Allein der Thwaites-Gletscher würde den weltweiten Meeresspiegel um einen Meter steigen lassen, wenn er kollabiert. Allerdings würde dies wohl auf Zeitskalen von mehreren Jahrtausenden geschehen, so Feldmann.
Folgen für Ökosystem
Das Rekordtief beim Meereis hat aber noch andere weitreichende Folgen - nämlich für das Ökosystem. Denn es gibt zahlreiche Arten, die direkt im Eis leben, erklärt der Meeresbiologe Hauke Flores vom AWI: "Dazu zählen etwa Eisalgen, verschiedene Einzeller, Schnecken, quallenartige Tiere und kleine Krebse. Die sind natürlich direkt betroffen, wenn es weniger Eis gibt."
Fast noch wichtiger ist aber Krill - denn auch dieser besiedelt im Larvenstadium den Raum unter dem Meereis. Das Problem ließe sich auf einen simplen Nenner bringen: "Je weniger Meereis, desto weniger Krill", so Flores. Das Problem dabei: "Krill ist eine zentrale Nahrungsgrundlage für zahlreiche weitere Arten. Dazu zählen Wale, Robben und auch Pinguine."
Pinguin-Bestand geht zurück
Es könnte also in Zukunft - wenn das Eis dauerhaft deutlich abnimmt - sein, dass diese Tiere nicht mehr genügend Nahrung finden. In der Westantarktis, wo die Eisbedeckung schon etwa seit 20 Jahren abnimmt, ist dieser Effekt auch schon beobachtet worden. Eine Studie im Fachjournal "PNAS" zeigt 2011, dass der Rückgang der Adélie-Pinguine wahrscheinlich mit einem Mangel an Krill zusammenhängt.
Der Eisrückgang bereitet dem Meeresbiologen deshalb auch große Sorgen: "Die aktuellen Veränderungen in der Antarktis treffen die Wurzel der Nahrungskette."
Auch wenn die Gründe für den Eisrückgang noch nicht vollends geklärt sind, deutet doch vieles darauf hin: Die globale Erwärmung und die Auswirkungen auf das Klimasystem der Erde werden offenbar zunehmend auch in der Antarktis spürbar. Die aktuellen Entwicklungen könnten einen Vorgeschmack darauf geben, was in den kommenden Jahren und Jahrzehnten am Südpol zu erwarten ist.