Eine Knotenwespe auf einem grauweiß blühenden Perlkörbchen wird durch eine Lupe beobachtet.

Artensterben Warum uns Wolf und Wiese wichtig sein sollten

Stand: 24.11.2024 08:02 Uhr

Weltweit gilt mehr als jede dritte Tier- und Pflanzenart als bedroht. Was hat das mit den Menschen zu tun? Eine ganze Menge, sagen Forscher. Nicht nur gilt der Mensch als Hauptursache: Es hat auch enorme Folgen für unser Leben.

Von Melina Runde, tagesschau.de

"Man kann einen Draht zerschneiden, man kann einen zweiten Draht zerschneiden, und das Netz funktioniert weiterhin. Und plötzlich, wenn man den x-ten Draht zerschneidet, dann hört es auf zu funktionieren." So hat es der damalige Chef der Weltnaturschutzunion, Bruno Oberle, vor zwei Jahren beschrieben: den Verlust der Biodiversität - also der Vielfalt allen Lebens.

Neben dem Klimawandel gilt das Artensterben als die größte Bedrohung für unseren Planten, sagt die Umweltorganisation WWF. Und damit auch für uns. Warum verliert die Natur ihre Vielfalt? Der Weltbiodiversitätsrat macht dafür fünf wesentliche Ursachen aus:

  1. Veränderungen in der Land- und Seenutzung, etwa durch Landwirtschaft
  2. Übernutzung biologischer Ressourcen
  3. Klimawandel
  4. Umweltverschmutzung
  5. gebietsfremde Arten, die andere Arten verdrängen

Tieren fehlt der Raum zum Überleben

"Die direkten Einwirkungen des Menschen sind das größte Problem", sagt Wolfgang Kießling, Professor für Paläobiologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Etwa durch Überfischung in den Meeren sowie Überjagung an Land. Durch die Habitatzerstörung, vor allem an Land, hätten Tiere teils keinen Raum mehr zum Überleben.

Situation in Deutschland

Dabei geschieht das Artensterben für uns Menschen häufig im Hintergrund. Die Lage in Deutschland sei aber durchaus dramatisch, sagt Professorin Katrin Böhning-Gaese, wissenschaftliche Geschäftsführerin des Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung. Das habe etwa der "Faktencheck Artenvielfalt" von mehr als 150 Wissenschaftlern gezeigt: Demnach sind mehr als die Hälfte der Ökosysteme in einem schlechten Zustand. So nähmen etwa die Bestände der Vögel massiv ab. Teils hätten sich die Bestände halbiert. Einzelne Arten wie der Kiebitz seien sogar um mehr als 90 Prozent zurückgegangen, so Böhning-Gaese.

"Mitteleuropa ist eigentlich seit Jahrhunderten schon mehr ein Park als Natur", ergänzt Kießling. "In Deutschland gibt es praktisch keine Wildnis mehr." Das sei in anderen Ländern, wo es noch Wildnis gebe, ganz anders. Dort sei auch das Artensterben deutlicher zu spüren. Dennoch hänge auch hierzulande unser Überleben von der Biodiversität ab.

Biodiversität für Nahrung, Kleidung und Wohlbefinden

"Ich glaube, das ist den meisten nicht wirklich klar, dass es nicht nur um ein bisschen Naturschutzgebiete geht, sondern um unsere Lebensgrundlagen", sagt auch Biologin Böhning-Gaese. Biodiversität sorge zum Beispiel dafür, dass Böden fruchtbar seien, Pflanzen bestäubt werden, Ökosysteme sich wieder regenerierten und Wälder wieder erholen könnten. Auch nutzten wir Biodiversität als Nahrung, für Medikamente und für Kleidung. "Und schließlich brauchen wir Biodiversität auch für unser eigenes Wohlbefinden, für unsere Gesundheit, für die Erholung - für das Gefühl der Identität und der Heimat", so die Forscherin.

In einer europaweiten Studie mit mehr als 26.000 Befragten konnte Böhning-Gaese 2020/2021 nachweisen, dass die Zufriedenheit der Menschen auch mit der Artenvielfalt zusammenhängt - und zwar in ähnlichem Maße wie das Einkommen. Demnach waren Menschen in Regionen mit einer hohen Vielfalt bei Vogelarten zufriedener.

"Biodiversität ist auch eine Versicherung gegen Krankheiten", so Paläobiologe Kießling. In vielen Experimenten sei nachgewiesen worden, dass sich Krankheiten in hochdiversen Ökosystemen weniger stark ausbreiten als in niedrigdiversen. Generell wirke die Artenvielfalt wie eine Versicherung. Durch viele Arten werde das System stabiler, sagt auch Böhning-Gaese: "Viel hilft viel."

Forschung zu Auswirkungen ist schwierig

Was passiert aber, wenn - wie Oberle damals sagte - entscheidende Drähte zerschnitten werden und das System zusammenbricht? "Das ist schwer zu sagen", sagt Böhning-Gaese. Bei der Biodiversität gebe es - nach derzeitigem Stand der Wissenschaft - keine Kipppunkte. "Stattdessen wird mit jeder Art, die verloren geht, die Widerstandsfähigkeit und die Resilienz von dem Ökosystem ein kleines bisschen mehr geschwächt."

Entscheidend seien dabei auch sogenannte Schlüsselarten - also Arten, die einen überproportionalen Einfluss auf das Ökosystem haben. Das sind unter anderem der Wolf oder auch der Biber. Verringert sich ihre Population massiv oder sterben sie gar aus, könnten sich ganze Ökosysteme ändern. Häufig wisse man allerdings gar nicht, bei welchen Arten es sich um Schlüsselarten handele, erklärt Böhning-Gaese. Das herauszufinden sei "großer wissenschaftlicher Aufwand".

Zusammenspiel von Klimawandel und Artensterben

Kießling sehe zudem ein Problem darin, dass Klimawandel und Artensterben häufig getrennt betrachtet würden. "Das ist tatsächlich sehr komplex miteinander verwoben." Der Klimawandel sei teilweise auch dem Verlust von Biodiversität geschuldet. "Wenn wir beispielsweise Wälder fällen oder Moore trockenlegen, dann verlieren wir die Kapazität der Biodiversität, Kohlenstoff oder CO2 zu speichern. Damit verlieren wir eine Möglichkeit, Treibhausgase aus dem System wieder herauszukriegen." Wenn man nur eines der beiden im Blick habe, "dann laufen wir Gefahr, dass wir die Probleme eventuell noch verstärken".

Experten vermuten, dass die Erde am Beginn eines weiteren Massenaussterbens stehen könnte. Solche gab es bereits in der Erdgeschichte. Aber es brauchte Millionen von Jahre bis sich das Leben wieder erholt habe, erklärt Kießling. "Das ist womöglich die größte Botschaft, die man daraus ziehen kann."

Schutzgebiete, weniger Fleisch und mehr Bewusstsein

Wie aber das Artensterben aufhalten? "Das ist eigentlich gar nicht so schwierig", meint Böhning-Gaese. Dazu benötigt man drei Maßnahmenpakete: Eines für Schutzgebiete, eines zu Land- und Forstwirtschaft und eines zum Konsum. Bei den Schutzgebieten sei Deutschland theoretisch auf einem guten Weg. Oft sei der Schutz dort aber kaum wirksam: So dürfe etwa in fast allen Schutzgebieten im Wattenmeer trotzdem gefischt werden.

Doch auch jeder Einzelne könne etwas zur Artenvielfalt beitragen: Zum Beispiel mit einem verwilderten Garten für Insekten. Auch die eigene Ernährung ist laut Böhning-Gaese ein "Riesenhebel". So könne man Lebensmittelverschwendungen reduzieren sowie weniger Fleisch und dafür mehr pflanzenbasiert essen. Denn, so zeigen es auch Analysen des statistischen Bundesamtes: Für ein Kilogramm Rindfleisch brauche man im Extremfall 160-mal die Fläche für ein Kilogramm Kartoffeln. "Und wenn ich meinen Fleischkonsum halbiere, wird so viel Fläche für eine biodiversitätsfreundlichere Landwirtschaft und für Naturschutzgebiete frei", so Böhning-Gaese.

Auch wenn schwer vorherzusagen ist, wann welche Stellen im Biodiversitäts-Netz zusammenbrechen könnten: "Wenn zumindest dieses Bewusstsein da ist", so Kießling, "dann wird schon vieles besser."

Dieses Thema im Programm: https://gktlplllco.tudasnich.de/wissen/klima/biodiversitaet-artensterben-100.html