Ägypten Al-Sisis neue rote Linie
In Ägypten sind seit April Hunderte politische Gefangene freigekommen. Ein Täuschungsmanöver, sagen Menschenrechtler, denn sehr viel mehr Bürger seien seitdem verhaftet worden. Das könnte mit der hohen Inflation im Land zu tun haben.
Der 29-jährige Anwalt Nabih El-Ganadi von der Ägyptischen Initiative für Persönlichkeitsrechte ist im Dauereinsatz. Jeden Tag erscheine er derzeit vor Gericht, vertrete im Schnitt zehn Angeklagte, erklärt er. Ihnen werde zur Last gelegt, sich zum Beispiel bei Facebook oder auf TikTok darüber beklagt zu haben, dass die Preise explodiert seien und sie deshalb Probleme hätten, ihre Familie zu ernähren. Das münde dann oft mit der Anklage vor Gericht mit dem Vorwurf: Verbreitung von Falschnachrichten und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.
"Eine neue rote Linie, die kaum zu überbieten ist"
Offenbar befürchtet die ägyptische Regierung, dass die Unmutsäußerungen vieler einzelner Massenproteste in der Bevölkerung auslösen könnten, ähnlich wie 2011, als die Menschen gegen Präsident Hosni Mubarak auf die Straßen gingen.
Aus der Sicht des Anwalts zieht die Regierung nun eine neue rote Linie, die kaum zu überbieten ist: "Man muss sich das mal vorstellen. Die Menschen können sich kaum noch Fleisch leisten und dürfen sich nicht mal in den sozialen Netzwerken darüber beklagen."
Wirtschaftliche Not - ein Pulverfass
Tatsächlich haben sich die Preise in Ägypten in den vergangenen zwei Jahren für viele Produkte verdoppelt. So kostete das Kilo Rindfleisch vor einem Jahr knapp noch die Hälfte. Eine seit Jahren sehr hohe Inflation treibt die Preise nach oben. Allein im Dezember vergangenen Jahres lag sie bei 21,3 Prozent - der höchste Wert seit 2017. Zudem hat das ägyptische Pfund in den vergangenen zwei Jahren dramatisch an Wert verloren.
2021 mussten die Ägypter für einen Euro 19 Pfund zahlen - jetzt sind es 32 Pfund. Das bedeutet, Importe sind jetzt rund 60 Prozent teurer. Kein Wunder, dass die Unzufriedenheit darüber in der Bevölkerung wächst.
Viele Menschen im Land wissen nicht mehr, wie sie über die Runden kommen sollen. Präsident Abdel Fattah al-Sisi steht massiv in der Kritik, weil er beachtliche Devisen und Darlehen in Megaprojekte gesteckt haben soll, eine neue Verwaltungshauptstadt und die Erweiterung des Suez-Kanals finanziert, ohne perspektivisch und nachhaltig in dringend gebrauchte wirtschaftliche Projekte zu investieren.
Warum wurden rund 800 politische Gefangene begnadigt?
Laut Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International sind seit April 2022 knapp 800 politische Gefangene begnadigt worden. Das sei jedoch vor allem auf den Druck westlicher Regierungen, allen voran der USA zurückzuführen. Die US-Regierung hatte bei mehreren Gelegenheiten die ägyptische Regierung dazu aufgefordert, Menschenrechte und die Meinungsfreiheit zu achten.
Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, hielt die US-Regierung von den jährlichen 1,3 Milliarden US-Dollar Militärhilfe 130 Millionen zurück. Offenbar reagierte die ägyptische Regierung darauf und US-Außenminister Antony Blinken begrüßte im November, dass eine "signifikante Anzahl von politischen Gefangenen" begnadigt wurde. Auch durch die Ausrichtung der UN-Weltklimakonferenz COP27 richtete sich damals die Aufmerksamkeit auf die Lage in dem Land.
"Täuschungsmanöver"
Der Anwalt El-Ganadi von der Ägyptischen Initiative für Persönlichkeitsrechte spricht bei den Freilassungen aber von einem Täuschungsmanöver. Denn zum einen seien nur diejenigen begnadigt worden, von denen die "Staatssicherheit" ausgehen konnte, dass sie nach ihrer Entlassung keine Kritik an der Regierung äußern würden.
Zum anderen seien aber von April 2022 bis heute 2500 Menschen wieder in Gefängnisse weggesperrt worden. Auch Amnesty International hat dokumentiert, dass zwischen April und November 2022 1540 Menschen aus politischen Gründen verhaftet wurden - weit mehr Menschen, als freigelassen wurden. Auch, wenn darunter international beachtete Fälle waren, wie der des Sozialdemokraten und Menschenrechtsanwaltes El-Elaimi.
Menschenrechtsbeauftragte offenbar ausgeladen
Dass die Zahl politischer Gefangener in Ägyptens Gefängnissen nicht ab-, sondern zunimmt, sorgt offenbar auch die deutsche Bundesregierung. So plante die Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechte, Luise Amtsberg, jüngst eine Reise nach Ägypten. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes auch, "um in Menschenrechtsfragen im Gespräch zu bleiben".
Die Reise aber fand nicht statt. Aus Regierungskreisen hieß es danach laut Deutscher Presse-Agentur, die Einreise sei "auf diplomatischem Weg gestoppt worden". Das Auswärtige Amt erklärte auf Anfrage der ARD, die Menschenrechtsbeauftragte bedauere, dass es zu dem Besuch nicht kam. Die angespannte Menschenrechtslage habe sich in den vergangenen Monaten nicht gebessert, sondern punktuell "sogar verschlechtert". Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass in Ägypten mehr als 65.000 politische Gefangene inhaftiert sind.